Der Prinzessinnenmörder
nur, wenn Tourengeher von Lawinen verschüttet werden. Sie denkt, das passiert ständig, verstehst du?«
»Klar. Wenn ich das nur aus den Nachrichten wüsste …« Lisa schraubte die Thermosflasche zu. Sie war ganz konzentriert auf diesen Vorgang, wie auf alles, was sie tat. Er sog die kleinste Bewegung von ihr ein. Sie gab ihm die Flasche zurück, und die abendlichen Sonnenstrahlen brachen sich in ihren Augen.
Gestern Nacht waren sie in das irische Pub gegangen. Lisa hatte auf der Schule davon gehört. Unter Leuten ihres Alters war es legendär. Die Gäste waren meist Engländer, Australier, Holländer und Schweden, kaum einer über zwanzig. Das Personal kam aus England und seinen ehemaligen Kolonien. Nur Claudia, die dunkelhaarige, leicht verlebte Schönheit hinter der Bar, war eine Einheimische aus dem Spertental. Ab 22 Uhr war der Boden des Lokals mit Glasscherben und Zigarettenkippen übersät und die Kellner betrunkener als die Gäste. Aus den Lautsprechern kam ein Musikmix aus Nirvana, Guns ’n’ Roses, Green Day und wieder Nirvana. Lisa hatte fünf Minuten, nachdem sie gekommen waren, einen holländischen Verehrer von siebzehn Jahren, der aber auf dem Weg zur Tanzfläche gegen einen schwedischen Tisch torkelte und anschließend in längere Verhandlungen über die Bezahlung der zu Boden gerissenen Getränke verwickelt wurde. Zwei junge Männer aus Wolverhampton sprangen für den Holländer ein. Peter behielt Lisa im Auge. Er setzte sich an die Bar und begann ein bisschen mit Claudia zu flirten. Claudia hatte gesehen, dass Peter mit Lisa gekommen war. Sie fragte, wer denn die Kleine sei. Peter sagte, das sei seine Tochter. Claudia schien einen Augenblick irritiert. Dann sagte sie: »Die hosch guat hinkriagt.«
Lisa stand mit den zwei Jungs auf der Tanzfläche. Blond, schlank, hochgewachsen. Sie trug die Haare offen und Jeans mit Löchern und Tennisschuhe aus Segeltuch. Peter bemerkte, wie die Männer im Raum seine Tochter anstarrten. Die zwei Engländer spielten Luftgitarre und versuchten, Lisa mit allerlei Albernheiten zu unterhalten. Lisa benahm sich höflich distanziert, lächelte, lachte auch. So wie eine Prinzessin, die halb amüsiert, halb in geübter Gewohnheit Huldigungen entgegennahm. Schließlich ließ sie ihre Verehrer stehen und ging zu Peter an die Theke.
»Was ist? Sind die Jungs nicht nett?«
»Ja, ganz süß.« Sie zuckte mit den Schultern. Er schob ihr einen Maracujasaft hin, den er bei Claudia bestellt hatte. Sie nahm den Strohhalm zwischen die Lippen und sog die Flüssigkeit ein. Für einen Augenblick verschmolz sie ganz mit dem Maracujasaft. Es schien nichts anderes zu geben als das Glas, den Saft, den Strohhalm und sie. In solchen Momenten hatte sie die Augen fast geschlossen. Er fragte sich, was sie zwischen ihren langen Wimpern sehen mochte. Vielleicht nichts. Vielleicht war ihr Blick auch nach innen gerichtet, und sie träumte von irgendetwas, das sie für sich behielt. Sie setzte das Glas mit Grazie auf dem Tresen ab.
»Tanzt du mit mir?«
»Bist du sicher? Ich meine, ich bin froh, dass mir hier noch niemand seinen Platz angeboten hat.«
Lisa lächelte ihn an. »So ein Quatsch«, sagte sie, als wäre sie fünfunddreißig. Dann zog sie ihn am Hemd und deutete mit dem Kopf zur Tanzfläche. In dieser Nacht hatten sie getanzt, Spaß gehabt, Lisa hatte zwei Gläser Sekt getrunken und eine Zigarette geraucht. Sie waren um halb drei in die Pension zurückgekehrt.
»Komm, Prinzessin, es wird Zeit, dass wir abfahren.« Lisa nickte und gab ihm die Thermoskanne zurück. Dann begann sie andächtig, die Schnallen ihrer Skischuhe zu schließen.
Die Idee mit der Skitour war Peter heute Morgen gekommen. Sie hatten spät gefrühstückt nach der anstrengenden Nacht. Es war ein schöner Tag. Die Luft war mild und der Frühling schon zu erahnen. Die Pisten würden brechend voll sein. Die meisten Leute hatten heute frei.
»Komm«, hatte Peter gesagt, »wir machen eine Skitour. Da sind wir allein auf der Piste.«
»Einfach so?«, hatte Lisa gefragt. »Wir haben doch gar nichts dabei.«
»Wir leihen uns Skier und Felle. Was meinst du?«
Sie waren zum nächsten Skiverleih gefahren, hatten sich die Ausrüstung ausgeliehen und gefragt, wo man in der Gegend am besten eine einsame Skitour machen könne. Peter war früher oft Skitouren gegangen. Er kannte sich einigermaßen aus. Drei Stunden später standen sie auf dem Gipfel in zweieinhalbtausend Metern Höhe. Die Sonne schien.
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