Der Puls von Jandur
gerissen. Er sah noch, wie das Zimmer um ihn herumwirbelte, zu einem winzigen Punkt schrumpfte und schließlich ganz entschwand.
Es war wie ein höllischer Albtraum.
Das Gefühl zu fallen paarte sich mit der Angst vor dem Aufprall, gleißend helles Licht brannte in seinen Augen, während er tiefer und tiefer stürzte, durch einen engen Schacht ohne Anfang, ohne Ende. Stimmen brausten durch seinen Verstand …
Jemand weinte.
Du bist gefallen. Nichts passiert, steh wieder auf.
Jemand schniefte.
Mami gibt dir ein Pflaster.
Jemand lachte.
Das ist eine glatte Fünf, Danelli.
Jemand stöhnte.
Opa ist tot, mein Schatz. Er wacht nicht wieder auf.
Jemand schrie.
Jakob, nein! Jakob!
Jemand brüllte.
Ich kann dir nicht mehr zuschauen! Du ruinierst dich, Brizio! Aber nicht uns, nicht Matteo und mich! Ich will die Scheidung!
Jemand kicherte.
Ich bin eine Squirra. Ich sehe mehr.
Jemand flüsterte.
Lith? Lith …
Die Stimmen verdichteten sich, Worte donnerten auf ihn ein wie prasselnder Regen. Er konnte sie nicht mehr unterscheiden, nicht verstehen. Nein, es war kein Regen, es waren Nadeln. Tausende. Sie stachen in seinen Körper, trieben in seine Haut. Bohrender Schmerz überall. Und er schrie.
Ich halte dich.
Er schrie …
Dunkelheit.
Stille.
Bedrückende Enge.
Keine Luft, keine Luft, keine …
Drei
Mit einem befreienden Schrei holte Matteo Luft. Köstliche, herrliche Atemluft. Begierig sog er sie ein, Atemzug um Atemzug, bis er ruhiger wurde.
Er fühlte wieder. Da war kühler Stein unter seiner Haut, da war ein drückender Schmerz in seinem Magen, da kitzelte etwas an seiner Wange. Ein Tropfen benetzte seine Lippe und er leckte ihn ab. Er schmeckte salzig. Eine Träne.
Matteo öffnete die Augen. Die Balken im Gewölbe über ihm bildeten ein Kreuz, das sich verdoppelte und zu rotieren begann. Schneller und schneller. Er blinzelte den Schwindel weg und stützte sich auf die Unterarme.
Auf seinem Bauch lag ein Gefäß. Eine Art Vase, glitzernd blau wie das Meer an der Küste Kroatiens. Gerade wurde sie von gebräunten Händen hochgehoben. Ihr grüner Boden war nicht starr, sondern wandelte ständig die Form, ganz so, als wäre er lebendig.
Der Druck in seinem Magen nahm zu, Matteo warf sich zur Seite und übergab sich. Er würgte und spuckte, jemand stützte seine Schultern, mehr Tränen liefen über seine Wangen. Als der Brechreiz endlich nachließ, sank er erschöpft zurück. Ein feuchtes Tuch wischte über seinen Mund.
Matteo hörte Gemurmel, konnte aber nichts verstehen. Alles klang wie durch ein dickes Kissen. Bis er ihre Stimme vernahm.
Lith …
»… wäre möglich. Der Puls war schon sehr schwach.«
Ja, sie war es. Eindeutig.
»Lith«, krächzte er und setzte sich auf.
Im Raum war es düster, einige merkwürdig gekleidete Leute standen um ihn herum und er suchte die Köpfe nach Liths grünem Haar ab. Als sich ihre Blicke kreuzten, wandte sie sich ab.
»Lith«, wiederholte er. Sie war das Einzige, an das er sich klammern konnte.
Ein uniformierter Mann packte sie am Oberarm und schob sie auf eine Tür zu. Widerstrebend ging sie mit, nicht ohne sich noch einmal nach Matteo umzudrehen. Diesmal hielten ihre Augen stand und er hatte das Gefühl, als läge entschuldigendes Bedauern in ihrem Blick. Dann war sie weg.
Hände packten Matteo und drückten ihn zurück. Seine Schulterblätter stießen gegen Stein. Er lag auf einem Tisch oder einer Bank. Nackt. Nur von einem Laken bedeckt, das ihm bis zu den Hüften hinuntergerutscht war. Das alles kam ihm nicht richtig vor. Er bäumte sich auf, schlug um sich, schrie.
»Ruhig! Ganz ruhig!« Ein blasses Gesicht erschien über ihm, braune Augen, die ihm seltsam vertraut vorkamen, bekannte Züge, ein Grübchen am Kinn. »Khor, beruhige dich! Beruhige dich, dir geschieht nichts.«
Matteo wusste nicht, woran es lag, aber er fühlte sich plötzlich beschützt. Wo hatte er den Mann schon gesehen?
Er brachte ein Nicken zu Wege und ließ die Hände sinken. Khor , hatte er ihn genannt. Khor …
Der Griff um seine Schultern lockerte sich.
Der Fremde richtete sich auf. »Geht hinaus!«, befahl er den Umstehenden. »Alle raus. Sofort!«
Rasche Schritte, der Raum leerte sich.
Ein Mann in einem goldenen Kimono beugte sich über Matteo. Sein Schädel war kahl geschoren, nur vom Oberkopf hing ihm ein geflochtener Zopf bis über das Gesäß herab, der bei jeder Bewegung hin und her pendelte. Ein Asiate?
Sein lispelnder Akzent bestätigte die Vermutung. »Es
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