Der Puls von Jandur
Gedanken an sie musste Matteo schmunzeln. Er hatte sich nicht getäuscht, sie war eine Kampfmaschine.
Obwohl Matteo noch nie auf einem Pferd gesessen hatte, fühlte er sich bald relativ sicher. Es war wie beim Schwertkampf, sein Körper war im Reiten geschult. Alle Muskeln sandten in einem fort die Botschaft »Verlass dich auf uns« an sein Gehirn, und er musste sich nur darauf konzentrieren, ihnen nicht reinzupfuschen.
Dieser Khor-Avatar hatte seine Vorteile, das ließ sich nicht leugnen. Da er nun in ihm gefangen war, sollte er besser mit ihm kooperieren.
Die Barcas erwiesen sich als schnell und ausdauernd. Einen großen Teil der Strecke bewältigten sie im Galopp und erreichten dabei Geschwindigkeiten von geschätzten siebzig, achtzig Stundenkilometern. Fast so schnell, wie ein Auto auf der Stadtautobahn in Wien fahren durfte. Matteo hatte erwartet, dass die Tiere bald schlappmachen würden, doch damit lag er falsch. Die Barcas waren gewöhnlichen Pferden bei weitem überlegen.
So verließen sie rasch das Wüstengebiet. Erst sprossen vereinzelte Gräser aus dem sandigen Boden, mit der Zeit verwandelten sie sich zu dicken, grünen Kissen, die sich wie Pilzköpfe über die zunehmend dunkler werdende Erde verteilten. Die Luft wurde feuchter, der Sand im Mund weniger. Die Hitze blieb.
Lith hatte wie gewohnt die Führung übernommen, als stünde nicht in Frage, ob ihr Ziel immer noch der kaiserliche Palast war. Und vielleicht zweifelte sie ja auch nicht daran, doch Matteo sehr wohl.
Er hatte heute die Truppen der Kaiserin gesehen, hatte ihre Kampfmethoden kennengelernt, ihre Mordlust und Skrupellosigkeit. Er hatte die Crouweks gesehen, blutrünstige Bestien, die aufs Töten programmiert waren. Wie sie Freund von Feind unterschieden, wusste er nicht, aber sie taten es. Er hatte die Verzweiflung und den Mut gesehen, mit denen Nadors Männer ihren Feinden entgegentraten. Er hatte mehr gesehen, als ihm lieb war. Der heutige Tag hatte ihm die Augen geöffnet. Nicht ganz, nur zu einem winzigen Spalt, aber immerhin soweit, dass er all seine bisherigen Erfahrungen neu überdenken musste.
Lith hatte mehrmals betont, die Kaiserin sei unschuldig. Sie wolle nur sich und ihr Land vor Lord Nador schützen. Matteo hatte ihr geglaubt, ihr vertraut und Nador als Lügner abgestempelt. Was ihm nicht besonders schwer gefallen war, allein deshalb, weil er ihn in dieses Land geholt hatte und ihn zum Mörder machen wollte. Die Kaiserin töten. Es klang so widerlich, so abschreckend, so durch und durch böse. Doch davon einmal abgesehen – was, wenn Nador die Wahrheit sagte? Wenn nicht er log, sondern … Lith?
Während die Sonne hinter ihnen tiefer sank, sich die Grashauben zu einem dichten Teppich vermehrten und sich Buschwerk und Bäumchen zu kleinen Oasen zusammenrotteten, brütete Matteo über dieser einen Frage.
War Lith wirklich so durchtrieben? Konnte man so lange falsch spielen? Und was waren ihre Beweggründe? Arbeitete sie der Kaiserin in die Hände? Sollte sie ihn gar in den Palast locken? Oder kochte sie ihr eigenes Süppchen?
Es gab nur einen Weg, das herauszufinden: Er musste in die Höhle des Löwen, wie Nador es ausgedrückt hatte, und sich selbst ein Bild von der Kaiserin machen. Ihm wurde beinahe übel, als er über die möglichen Folgen nachdachte. Selbst wenn ihn Dylora mit offenen Armen empfinge, weshalb sollte sie ihn wieder gehen lassen? Weshalb sollte sie ihn durch die Weltenspirale nach Hause schicken? Würde sie ihn nicht bei sich behalten wollen? Ihn, den Lichtpuls? Und wenn sich die Kaiserin nun wirklich als böse Zauberin entpuppte, dann … ja, dann würde sie ihn erst recht nicht gehen lassen. Dann würde er vermutlich sterben, ganz wie Nador es prophezeit hatte. Würde er je wieder zurück in seine Welt gelangen? Oder saß er bis zu seinem Ende in Jandur fest?
Lith nahm ihr Barca vom Trab in den Schritt zurück.
»Wir werden die Nacht hier verbringen«, sagte sie und deutete auf eine kleine Baumgruppe. »Die Barcas sind müde, sie müssen trinken und fressen.«
Ein Bach schlängelte sich durch die Wiese, ein blaues Band mit golden gefärbten Wellenbergen, knapp einen Meter breit und von ansehnlicher Tiefe. Sein Gluckern erinnerte Matteo an die vielen Sommertage, die er als kleiner Junge im Wochenendhaus in Annaberg verbracht hatte. Fast erwartete er bunt-gescheckte Kühe, das Schellen ihrer Glocken und Lukas, den Nachbarssohn, der die Kühe nach Hause in den Stall trieb.
Eine heftige Sehnsucht
Weitere Kostenlose Bücher