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Der Puls von Jandur

Der Puls von Jandur

Titel: Der Puls von Jandur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mara Lang
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unsichtbar machen. Wieso waren sie für die Bruderschaft von Interesse?
    Die Nymure öffnete den Mund und seine Frage verlor an Bedeutung.

Sechzehn
    Ihre Stimme war wie goldenes Öl, wie flüssige Diamanten, wie der vertonte Sonnenuntergang, wie das bunte Schimmern eines Regenbogens.
    Sie drang nicht einfach nur ins Ohr, sie fuhr wie ein Stromstoß in den Körper, direkt ins Herz, wo sie süßen Schmerz hervorrief. Sie war die vollkommene Droge, je länger man ihr zuhörte, desto mehr wollte man von ihr, und tief im Inneren fürchtete man den Augenblick, da sie verklingen würde. Man wollte sie in sich einsaugen, mit allen Sinnen aufnehmen und für immer bewahren. Erregung und Freude, Liebe und Trauer, Staunen und Begeisterung – all das war die Stimme.
    Der Gesang hallte über den Platz, während die Nymure in Richtung Wagen wandelte. Aus mehreren Falten um ihre Kehle war bläuliche Haut gequollen und hatte sich zu Ballons aufgeblasen. Ihr Hals war gut viermal so dick wie zuvor und der perfekte Resonanzkörper.
    Die Töne kletterten höher und höher, kraftvoll und ausdauernd, ohne je zu zittern oder zu brechen. Dann wieder fielen sie in die Tiefe, nahe daran zu ersterben, und man wartete sehnsüchtig darauf, dass sie wieder anschwollen und erneut diese Farben und Bilder aufleben ließen. Dass sie umhüllten, streichelten, trösteten, wärmten wie die Mutter ihr Kind.
    Matteo lauschte hingerissen. Die Nymure sang in unverständlichen Silben und doch hatte er das Gefühl, die Botschaft der Arie zu verstehen: Komm mit mir. Ich führe dich, leite dich, befreie dich. Ich bin dein Halt, dein Schutz, dein Heim. Ich bin Liebe und Vertrauen. Ich bin Ende und Neubeginn. Ich bin Vergangenheit und Zukunft. Ich bin das Jetzt und ich bin die Ewigkeit. Komm mit mir.
    Hinter der Nymure und ihren Bewachern schlossen die Auserwählten an. Zwei Frauen und drei Männer. Einer hinter dem anderen, jeder einzelne wurde zu beiden Seiten von Quellbrüdern begleitet. Auf ihren Gesichtern lag der gleiche verzückte Ausdruck wie auf jenen der Umstehenden – der faszinierende Gesang der Nymure zog alle in ihren Bann. Den Abschluss bildeten drei weitere Brüder und allmählich spie der Tempel auch alle anderen Gläubigen aus. Von den Squirre war weit und breit nichts zu sehen. Am Wagen angekommen, kletterten die Auserwählten und ihre Begleiter hinauf. Die Leute winkten, Hüte und Kappen wurden geworfen, Hochrufe erschallten. Es war, als würde ein Brautpaar in die Flitterwochen verabschiedet. Fehlte nur noch der Reis. Und der Brautstrauß.
    Matteo erwischte sich bei einem breiten Lachen und er wunderte sich noch nicht einmal darüber. Zu schön war der Gesang, zu ausgelassen die Stimmung.
    Dann schnalzte der Kutscher mit der Zunge und der Karren kam in Fahrt. Kinder liefen jubelnd hinterher und gaben erst auf, als die Barcas in Galopp fielen und das Gefährt schlingernd in eine Seitengasse abbog.
    Die Nymure kehrte mitsamt den übrig gebliebenen Brüdern um, und der Tempel verschluckte die atemberaubende Stimme. Die Menge seufzte enttäuscht auf, auch Matteo entfuhr ein Ächzen – der Verlust schmerzte beinahe. Doch schon sorgte die Bruderschaft für angemessenen Ersatz: die Segnung.
    Oben im zweiten Stock verschaffte sich die Trommel Gehör, die Menschen reckten die Hälse. Zwei weitere Quellbrüder erschienen, einer trug ein gleißend helles Etwas in Händen. Matteo musste die Augen zusammenkneifen, um zu erkennen, dass es eine Glasschale war, die mit einer bläulichen Flüssigkeit gefüllt war. Das war also der Quell.
    Der Bruder präsentierte ihn den Leuten wie einen Schatz und sie antworteten mit einem einstimmigen »Ah«.
    Der andere, mit einer schwarzen Kutte bekleidete Bruder (es musste dieser Lenard sein), hob beide Arme, als wollte er die ganze Welt umfangen.
    »Brüder und Schwestern!«, rief er. »Lasst uns gemeinsam den Quell preisen! Kniet nieder!«
    Die Menschen auf dem Platz fielen auf die Knie, Aduka zupfte an Matteos Ärmel.
    »Knie dich hin, sonst fallen wir auf«, zischte sie.
    Matteo gehorchte verwirrt. Der Rausch wich, Ernüchterung packte ihn. Jetzt verstand er die Aufgabe der Nymure. Sobald sie auch nur einen Ton von sich gab, folgten ihr die Auserwählten blind. Der Gesang ließ sie alles vergessen, sie verloren den Bezug zur Realität, fielen in geistige Abwesenheit. Die Nymure war der Lockvogel, der Rattenfänger, und alle liefen ihr nach.
    Darum also war der Wagen in derart rasantem Tempo verschwunden. Deshalb

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