Der Puls von Jandur
werden und das Paradies zu betreten, stieg in ihm auf. Ja, er wollte nicht länger in diesem Körper gefangen sein, wollte nicht mehr kämpfen, er wollte auch nicht mehr nach Hause. Er wollte nur eines: Erlösung finden.
Als der Quellbruder die Rede beendete und zum Gebet aufrief, machte Matteo mit. Er fiel in den Sprechchor ein, kniete und betete genau wie die anderen. Nicht, weil Aduka es ihm eingeschärft hatte, sondern weil es ein innerer Drang war, um die Erlösung zu bitten. Er merkte nicht, dass er eine Marionette in Lenards Hand war. Er war nicht länger Matteo, er war ein Teil der Quellenergie, ein Puls, der sich nach seinem Ursprung sehnte.
Noch während des Gebets füllten die vier Brüder flache Schalen mit Quell und gingen durch die Sitzreihen, um die Menschen zu segnen. Die Hände übereinander gegen den Soplex gepresst wartete auch Matteo darauf, dass ihm ein kleiner Kreis auf die Stirn gezeichnet wurde.
»Dein Puls sei stark und dein Leiden kurz«, sagte der Bruder.
Matteo antwortete mit »Dank sei dem Quell«, wie er es von den anderen gehört hatte.
Das Quellelixier brannte sich wie ein feuriger Pfeil durch seine Stirn und jagte durch seinen Körper direkt in seinen Soplex. Wärme breitete sich in ihm aus, gepaart mit unendlicher Dankbarkeit, der Erlösung durch diesen Tropfen Quell einen winzigen Schritt näher gekommen zu sein.
Der Auftritt der beiden Squirre war wie ein Schock. Ein Sturz in klirrend kaltes Wasser, ein Erwachen aus dem süßesten Traum.
Schlagartig konnte Matteo wieder klar denken und sein Wunsch nach Erlösung war wie weggeblasen.
Es lag an Lith. Nur an ihr.
Beydur sah er gar nicht, obwohl der Junge vorweg ging. Er sah bloß Lith. Er sah die Fußfesseln und die silbernen Ketten, die bei jedem Schritt klirrten. Die weiße Kutte, die ihr viel zu weit war und in der ihre grazile Gestalt beinahe verschwand. Die nackten Handgelenke. Er sah ihre dunklen braunen Augen, die vor Schreck geweitet waren. Und er brauchte einige Sekunden um zu begreifen, warum sie ihm gar so groß erschienen.
Sie hatten ihr den Kopf rasiert.
Ihre Haare! Ihre wilden grasgrünen Dreadlocks. Weg. Alles weg. Diese Dreckskerle! Was hatten sie ihr sonst noch angetan?
Zutiefst erschüttert beobachtete Matteo, wie die beiden Squirre von zwei Brüdern zum Quellaltar geführt wurden. Vorbei an den Gläubigen, vorbei an einer Mauer des Schweigens.
Lith hielt den Blick starr geradeaus gerichtet, ihre Zähne gruben sich tief in ihre Unterlippe. Matteo konnte ihre Anspannung beinahe in sich selbst spüren. Beydur hingegen wirkte völlig ungerührt, immerhin kannte er ja das Prozedere.
Der Junge war dunkelhäutig wie alle Squirre, klein und zierlich, ein typischer Elfjähriger. Aber sein Gesicht war das eines Mannes, dem das Leben bereits Spuren in die Haut gezeichnet hatte. Wie lange mochte es dauern, bis er aussah wie Aduka? Wie lange, bis er aus Schwäche starb?
Auch Beydurs Schädel war kahl geschoren, und Matteo begriff instinktiv, was es damit auf sich hatte. Es war ein Machtbeweis. Ihr seid Gefangene, sollte es heißen. Wir sind eure Herren und wenn ihr nicht gehorcht, werden wir zu anderen Methoden greifen.
Matteo würgte an einem dicken Kloß in seinem Hals. Das war erniedrigend und ganz und gar abscheulich.
Vor dem Altar blieben die Squirre und ihre Bewacher stehen, und Bruder Lenard kündigte die Prüfung der Pulse an. Die Gehilfen, wie er die Squirre bezeichnete, würden nun durch die Reihen gehen und die Glücklichen auswählen, denen die Reise ins Quellparadies geschenkt werde. Das Mädchen, erklärte er, sei noch nicht ausreichend geschult, und er bat um Verständnis, falls sich die Auswahl dadurch etwas verzögere. Er gab noch ein paar geflüsterte Anweisungen, dann schickte er die Squirre mit ihren Bewachern los. Beydur nach rechts und Lith nach links.
Matteo seufzte auf. Damit würde Lith ihn prüfen, das war immerhin ein Lichtblick. Sie würde ihn wohl kaum auswählen. Oder doch?
Das Kettenrasseln kam rasch näher. Noch fünf Leute … noch vier … noch drei. Unruhig trat Matteo von einem Fuß auf den anderen. Noch zwei … noch einer.
Jetzt.
Sie starrten sich an. Liths Augen offenbarten mehr, als Matteo überhaupt verkraften konnte: Zorn, Schmerz, Scham, Unsicherheit, ein Anflug von Erleichterung, vielleicht darüber, dass er da war. Und dann Angst.
Ihre Unterlippe zitterte und ihr Brustkorb hob und senkte sich immer schneller. Matteo hörte sie keuchen und er hörte sich selbst
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