Der Puls von Jandur
mit einem erbosten Blick. Was wusste sie schon!
»Warum bist du eigentlich noch hier?«, lenkte er vom Thema ab. »In dieser Stadt? Warum verlässt du Kiraşa nicht und kehrst in die Höhlen zurück?«
»Zurück? Ich komme nicht aus den Höhlen. Nicht alle Squirre leben in den Bergen von Nezégab. Viele zieht es in den Süden, Richtung Hederra hinunter, in die alte Heimat. Meine Mutter vertrug das raue Klima nicht, sie sehnte sich nach der Hitze und dem Meer. Seit ich denken kann, zogen wir umher, lebten mal hier, mal dort, immer auf der Flucht vor der Bruderschaft. Irgendwann erwischten sie uns, es musste so kommen. Ich war sechzehn, als ich im Tempel anfing. Meine Mutter lebte noch ganze zwei Jahre, dann starb sie aus Schwäche. Für einige Monde war ich allein, das zehrte sehr an meinen Kräften, ich war fast am Ende.« Adukas Mundwinkel zuckten, sie lächelte gezwungen. »Dann fingen sie Beydur. Er ist der Grund, warum ich noch hier bin. Er ist erst elf, und seit ich weg bin, hat er niemanden mehr, der sich um ihn kümmert.«
»Elf. Dann war er«, Matteo rechnete nach, »sieben Jahre alt, als sie ihn schnappten? Erst sieben?«
»Ja. Weißt du, ich hoffe immer, ihn vielleicht zu sehen. Nur kurz, damit ich weiß, dass die Pulsenergie ihn noch nicht zerstört hat.«
»Er darf hinaus?«
»Nein, generell nicht. Aber manchmal kommt es vor, dass die Brüder die Auserwählten noch einmal prüfen lassen, bevor sie abreisen. Die Leute schwindeln sich gern auf den Wagen.« Sie deutete auf den offenen Karren mit den vier vorgespannten Barcas, der etwas abseits im Schatten eines Hauses abgestellt war. Der Kutscher trug eine Kutte der Bruderschaft und hockte wie festgewachsen auf dem Kutschbock. »Dann sitzen ein paar zu viel oben und man muss sie heraussuchen.«
Matteo nickte. Er fühlte sich zum Zerreißen angespannt, und dabei ging es doch bloß ums Zuschauen. »Wie lange dauert die Zeremonie? Eine Stunde?«
»Stunde?« Sie hob die Augenbrauen. »Nun ja, von einem Trommelwirbel zum nächsten.«
Richtig, die Sache mit der Uhrzeit. Jandur hinkte in allem hinterher, es gab keine Armbanduhren, ja noch nicht einmal Taschenuhren. Einzig die Uhr am Gerichtsgebäude, dem Haus mit den beiden Türmen und dem eisernen Tor, verkündete viermal am Tag die Zeit mit einem Gongschlag – morgens, mittags, abends und um Mitternacht. Unabhängig davon, so hatte Matteo erfahren, rief sie die Leute auch zu ganz besonderen Highlights zusammen: zu Gerichtsverfahren und Hinrichtungen.
»Wenn das Tor geöffnet wird«, erklärte Aduka, »musst du nach vorn. So schnell wie möglich. Am besten, du suchst dir vorher schon einen günstigen Platz. Die Flügel schwenken nach außen auf, darum stell dich in die Mitte, ja nicht auf die Seite, hörst du? Dort nämlich schieben und stoßen die Leute und versuchen einander abzudrängen, doch …«
Ein dumpfer Ton ließ Matteo suchend aufschauen und die Menge ehrfürchtig verstummen.
Oben auf dem Tempel, direkt vor den Fenstern des zweiten Geschosses, hatte ein Bruder mit einer hohen Trommel Aufstellung genommen. Sie reichte ihm bis zum Bauch, und nach diesem ersten einleitenden Schlag begann er, sie mit beiden Händen in gleichbleibendem Rhythmus zu bearbeiten. Langsam und bedächtig, Schlag um Schlag, wie eine Maschine. Die Akustik des Platzes war bemerkenswert. Der Wind trug das Trommelspiel über die Köpfe der Wartenden hinweg und die Hausmauern reflektierten die Töne.
Alle Augen waren jetzt auf das Tor gerichtet.
Lautlos schwang es auf. Matteo hatte damit gerechnet, dass die Leute losstürmen würden, doch sie verharrten regungslos wie vor einer unsichtbaren Wand. Zwei Quellbrüder stellten sich mit gekreuzten Armen vor die Menge, immer noch hallte die Trommel. Als der letzte Schlag verklungen war, trat einer der Männer vor.
»Wir grüßen euch, Brüder und Schwestern, Kinder des Quells. Stark sei euer Puls und kurz euer Leiden.« Seine klangvolle Stimme rollte wie eine Welle über die Menschentrauben hinweg bis in die hintersten Reihen. »Wir bitten, die Trommel zu respektieren. Jenen, die der Zeremonie fernbleiben müssen, sei versichert, dass auch ihnen eines Tages Erlösung widerfahren wird. Wie immer wird Bruder Lenard im Anschluss an die Prozession eine allgemeine Segnung aussprechen. Dank sei dem Quell.«
»Dank sei dem Quell!«, antwortete die Menge im Chor.
Die Brüder bezogen ihre Posten neben den Türflügeln, der Trommler nahm sein Spiel wieder auf und auf dieses Zeichen
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