Der Puls von Jandur
der Einzige, der noch im Gang herumstand wie bestellt und nicht abgeholt. Die Leute in den vorderen Reihen drehten sich bereits nach ihm um. Wie sollte er jetzt noch unter eine Bank kriechen?
Ein Arm legte sich um seine Schulter. »Komm, mein Sohn. Wir finden schon ein Plätzchen für dich.«
Es war der Quellbruder, der das Tor geschlossen hatte, und Matteo musste wohl oder übel mit ihm gehen. Staunend blickte er sich um. Alles war licht und freundlich gestaltet. Helles Holz, weiße Wände und klare Linien durchzogen den Raum, nirgendwo gab es Bilder, Statuen, Kerzen oder sonstigen Schnickschnack. Gar nicht wie in einer Kirche.
Der Bruder führte ihn nach vorn. Jetzt durchblickte Matteo die Unterteilung der Halle: Die vier Steintische des Altars hatten jeweils die Form eines Viertelkreises und waren so aneinandergestellt worden, dass man dazwischen bequem hindurchgehen konnte. Zusammen mit den Bänken bildeten sie ein Rad, dessen Speichen – eben jene vier Gänge – bis an die Außenmauern reichten.
Im Zentrum des Altars war auf einer Säule eine Glaskugel platziert, gefüllt mit dem kostbaren Elixier, auf das hier alle so abfuhren: Quell. Die durchsichtig blaue Flüssigkeit ruhte nicht, sondern pulsierte in sich und schickte ihre Lichtreflexe kreuz und quer durch den Saal, wie ein glitzernder Funkenregen, der sich über den Köpfen der Gläubigen verteilte, über die Wände wanderte und das Deckengewölbe besprühte. Im Vergleich zum Quell warf das Sonnenlicht, das durch die Dachfenster fiel, nur matte Streifen in den Saal.
Die vier Durchgänge zwischen den Tischen waren von je einem Quellbruder bewacht, ganz so, als hätte die Bruderschaft Sorge, dass sich jemand unerlaubt an ihrem Heiligtum vergreifen könnte. Mit unbewegten Gesichtern starrten sie vor sich hin.
Der Bruder forderte die Leute in der ersten Reihe auf, zusammenzurücken und deutete auf den freigewordenen Sitzplatz. »Bitte setz dich«, forderte er Matteo auf.
Benommen sank Matteo auf die Bank. Erste Reihe. Und auch noch an der Ecke. Er saß genau im Blickfeld des Quellbruders am Altar. Nicht gut. Gar nicht gut. Nein, eine mittlere Katastrophe.
Beydur würde ihn auswählen. Er sah sich schon hinter der Nymure herlaufen und dann auf den Wagen steigen. Er sah sich auf einem Opfertisch liegen. Er sah sich … Wie zum Teufel wurden eigentlich die Pulse dem Quell zugeführt? Das hatte man ihm bisher vorenthalten. Andererseits … wollte er das wirklich wissen?
Linker Hand öffnete sich eine Tür und jegliches Gemurmel verstummte. Der Bruder in der schwarzen Kutte – Lenard – betrat die Halle. Er ging bis zur Quellkugel und schlug dort seine Kapuze zurück. Sein weißblondes Haar war millimeterkurz geschnitten, wie ein zarter Flaum bedeckte es seinen Kopf, die Haut darunter schimmerte rosig.
Gemächlich musterte er die Gläubigen im Saal, als ob er sich dabei in Gedanken jeden Einzelnen notierte.
Matteo brach der Schweiß aus allen Poren. Er wünschte sich ein Loch im Erdboden herbei, nur ein ganz kleines, in dem er sich verschanzen könnte. Denn dieser Mann war der stumme Zeuge von Liths Gefangennahme. Er hatte den Zwerg entlohnt.
Dennoch blieb sein Gesicht ausdruckslos, als er Matteo ins Visier nahm. Nicht ein Wimpernschlag, kein Muskelzucken, nichts deutete darauf hin, dass er ihn erkannte.
Bruder Lenard beendete seine Leuchtturm-Umdrehung und begann mit der Predigt. Seine sonore Stimme füllte den Saal und schraubte sich in Matteos Hirn wie ein Drillbohrer. Er bemühte sich, nicht hinzuhören, sich stattdessen einen Plan zu überlegen, wie er der Prüfung entgehen konnte, wie er sich verstecken oder, noch besser, vor den Augen aller in Luft auflösen konnte.
Unmöglich, er schaffte es nicht.
Dieser Lenard war der reinste Hypnotiseur. Die Menschen im Saal lauschten mit verklärten Augen, niemand konnte sich seinem Einfluss entziehen. Es war von Hingabe die Rede, von tiefem Glauben, von der Notwendigkeit, die Energie des Quells zu stärken, von Geben und Nehmen, vom Tod und der Wiedergeburt in einer anderen Dimension. Und vom Quellparadies. Welch Schönheit und Glück dort herrsche, wie viel Reichtum und Segen. Dass alles Leiden, jeglicher Schmerz und Kummer ein Ende hätten. Es gebe keinen Hunger, keine Krankheit, keine Plagen. Nur Erlösung.
Wort um Wort fand seinen Weg in Matteos Verstand, hartnäckig und zwingend logisch, und bald hatte er alles um sich herum vergessen. Unbändiges Verlangen danach, selbst ein Teil des Quells zu
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