Der Puls von Jandur
Zeremonien abgehalten, und stets wurde ein Puls auserwählt, dem diese Erlösung vorzeitig geschenkt wurde.
Du musst dir das wie ein Casting vorstellen. Der Erwählte wurde ganz groß gefeiert, seine Abreise zum Quelltempel war ein Fest, eine Sensation. Es war eine geplante ideologische Verblendung. Den Leuten wurde regelrecht eingeimpft, welche Gnade es sei, in den Quell eingehen zu dürfen. Anfangs waren sie nur begierig darauf, dabei zu sein, und bald wollten sie nichts lieber als selbst zu den Glücklichen gehören. Im Grunde war es ein Geniestreich der Kaiserin – mit dem einen Traum: den Lichtpuls zu finden.«
»Aber warum? Ich verstehe immer noch nicht, was das Ganze soll. Was bringt diese Stärkung der Quellenergie? Was bringt der Lichtpuls? Noch bessere Heilkraft?«
»Das ewige Leben«, sagte Sebastján und setzte einen tiefgründigen Blick auf. »Unsterblichkeit. Nicht im Quellparadies, sondern auf Erden. Das ist es, was die Kaiserin will.«
Es entstand eine Pause, in der Matteo krampfhaft versuchte, den Zusammenhang zwischen dem Wort will und dem eben Gehörten zu finden. Die Erkenntnis streifte ihn wie ein kühler Luftzug und flatterte davon, bevor er sie festhalten konnte. Er schaute erst Sebastján ratlos an, dann Aduka und Mayki und schließlich wieder Sebastján. Sie alle schwiegen, beinahe lauernd.
»Was ist?«, fragte Matteo.
»Das war keine Geschichte, mein Junge. Die Kaiserin, von der wir hier sprechen, lenkt die Geschicke Jandurs auch heute noch. Es ist …«
»Nein …« Die Wahrheit. Das kann nicht sein. Darf nicht …
Matteo presste die Finger gegen Stirn und Schläfen. Sein Kopf wollte schier platzen und am liebsten hätte er ihn gegen eine Wand geschlagen, damit es schneller ging. Das also war die Wahrheit. Liths Kartenhaus fiel in sich zusammen und hinterließ einen Schutthaufen. Und es tat weh. Obwohl er es geahnt, gespürt, gewusst hatte, tat es so ungeheuer weh. Nicht dieser eine verfluchte Name, sondern Liths Verrat.
Er schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Doch. Es ist …«
»Dylora«, flüsterte Matteo.
Matteo kauerte dicht neben Aduka, im selben Hauseingang, in dem sie auch am Vortag gesessen hatten. Es war später Vormittag, kurz vor Beginn der Zeremonie.
»Und du willst es trotzdem tun?« Aduka sah ihn nicht an. »Du willst Lith da rausholen? Obwohl sie …«
»Das fragst du? « , entgegnete Matteo. »Gerade du? Wo du weißt, was mit ihr passieren wird? Wo du es am eigenen Leib erfahren hast? Keine Lüge der Welt rechtfertigt diese Strafe.«
»Nein, natürlich nicht. Aber du weißt doch gar nicht, wie tief ihre Lügen gehen. Du hast gerade mal an der Oberfläche gekratzt, und das auch nur, weil Sebastján dir alles erzählt hat.«
»Es war nichts anderes als eine Bestätigung. Ich habe es schon vorher geahnt. Sie konnte es nicht mehr verbergen, sie …« Matteo brach ab und ließ seinen Blick über den Platz schweifen. Er war nicht wiederzuerkennen. Die Menschenmassen drängten sich vor dem Tor des Tempels und warteten geduldig auf den Einlass. Ihr Gemurmel untermalte seine verworrenen Gedanken. Sicherlich, Lith hatte ihn hintergangen. Warum wusste er nicht, aber er würde sie zur Rede stellen. »Wenn ich es nicht tue, wer dann?«, meinte er abschließend.
»Tja, wer dann?« Aduka stand auf. »Komm, wir stellen uns auf das Podium. Von dort hat man einen besseren Überblick.«
Matteo folgte ihr die Treppe hinauf zum Galgen (es kam ihm immer noch ziemlich makaber vor, sich in seiner unmittelbaren Nähe aufzuhalten), wo sich noch andere Schaulustige eingefunden hatten.
Die vorderste Reihe war besetzt, doch die Leute wichen zur Seite, als hätte die Squirra eine ansteckende Krankheit. Nun gut, in diesem Fall war es von Vorteil, und sie hatten den besten Ausblick auf das Trauerspiel, wie Aduka es bezeichnete.
Sie hatte vorgeschlagen, dass Matteo den Ablauf zuerst von draußen beobachten sollte, bevor er versuchte, bei der Zeremonie am Nachmittag in den Tempel zu gelangen. Das sei nicht ganz so einfach, hatte sie erklärt. Der Tempel bot nicht für alle Gläubigen Platz, viele wurden wieder weggeschickt und mussten ihr Glück beim nächsten Mal versuchen.
»Da ist mehr zwischen euch, habe ich Recht?« Die Sache mit Lith ließ Aduka keine Ruhe.
Matteo seufzte entnervt auf. »Da ist gar nichts zwischen uns. Nicht mal Freundschaft. Hör auf mit dem Gerede.«
»Was ist schlimm daran?«
»Ich kann sie nicht leiden.«
Aduka lachte. »Das merkt man.«
Matteo bedachte sie
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