Der Puppengräber
verloren, ganz so, als sei dieses Lächeln nur für ihn bestimmt.
«Fein», flüsterte er noch einmal und duckte sich,dass nur noch seine Augen über die Maiskolben hinausragten. Das war gut, denn jetzt kam sein Freund Lukka ans Fenster, sprach und schaute dabei hinaus. Und jetzt sollte er ihn besser nicht sehen.
Sie machte Anstalten, sich zu erheben. Mit einer Hand griff sie nach der Jacke, schob sie unter einen Riemen am Rucksack und gähnte verhalten. Die gelben, roten und grünen Flecken auf dem Jackenstoff gefielen Ben ausnehmend gut, ebenso gut wie sie. Mit ihrem kurzgeschnittenen dunklen Haar war sie nicht der Typ Mädchen oder Frau, den Marlene Jensen für ihn verkörpert hatte. Sie glich mehr seiner kleinen Schwester. Jetzt griff sie nach dem Rucksack, gähnte noch einmal.
Er tastete nach dem Messer in seiner Hosentasche. «Finger weg», flüsterte er fast heiser vor Erregung. Dann schlich er vom Mais verborgen langsam näher auf das Haus und das erleuchtete Fenster zu.
BÄRBELS SCHULD
Für Bärbel begann am bunten Sonntag 1982 die Erfüllung eines Traumes. Sie schaffte mit einem simplen Trick, was zuvor keinem Mädchen gelungen war. Nach dem Spaziergang am Nachmittag, ein paar Küssen, dem verstohlenen Händchenhalten unter dem Tisch im Café Rüttgers und den langen Blicken erklärte sie Uwe von Burg beim Abschied, dass man sich nun besser in aller Freundschaft trenne, weil ein festes Verhältnis keine Chance hätte.
Bis dahin hatte Uwe von Burg gar nicht an ein festes Verhältnis gedacht, aber so etwas hatte er bis dahin auch noch nie von einem Mädchen gehört. Er bestand darauf,Bärbel am folgenden Sonntag in die Eisdiele nach Lohberg einzuladen. Sie könnten auch am nächsten Abend noch einmal spazieren gehen, meinte er. Da würde man sehen, was eine Chance hatte und was nicht.
Bärbel ließ sich von Anita beraten, wie sie sich verhalten sollte, und hielt sich strikt an die Anweisungen der älteren Schwester. «Lass ihn zappeln.» Es funktionierte. Bis in den Juni schwebte Bärbel über allen Wolken. Keinen Abend ließ Uwe aus, hoffte jeden Abend aufs Neue, das Ziel zu erreichen.
Regelmäßig ließ Anita sich berichten, wie die Beziehung fortschritt, was Uwe während des Spaziergangs zum Bendchen geschworen und getan hatte. Sie gab Bärbel Ratschläge und Verhaltensmaßregeln für den nächsten Abend und ließ durchblicken, dass sie einem Bauerntrampel niemals derartige Zärtlichkeiten und Liebesschwüre zugetraut hätte.
Nach den ersten Wochen, in denen er mehr gezappelt als sonst etwas getan hatte, war Uwe von Burg fest überzeugt, ohne Bärbel Schlösser nicht mehr leben zu können. Er gestand ihr das fatalerweise auf einer Decke im Gras der Apfelwiese bei Einbruch der Dämmerung, weil sie bei den ausgedehnten Spaziergängen immer Gelegenheit fand, sich einem festeren Zugriff auf scheinbar zwanglose Art zu entziehen.
Auf Uwes Erklärung folgte eine leidenschaftliche Umarmung mit den dabei typischen Lauten, schnaufen, keuchen und stöhnen. Und ein paar Meter entfernt lag Ben im Gras verborgen neben dem offenen Trichter und träumte mit offenen Augen von dem Nachmittag im Zirkus und der darauf folgenden Nacht.
Während er Bärbel küsste, schob Uwe mit einer Hand ihren Rock hinauf und die Finger unter das Gummibund ihres Schlüpfers. Bärbel zierte sich, griff nach seinemArm und hielt ihn am Handgelenk fest, schob den Unterleib ein wenig zur Seite, strampelte verhalten mit den Beinen und gab ein erstickt klingendes «Nein, nicht» von sich.
Ben war nicht das erste Kind, das die Töne und Gesten einer Umarmung mit einem Angriff gleichsetzte. Und als er Derartiges zum ersten Mal beobachtet hatte, waren es ein Angriff und ein heftiger Kampf gewesen, dem er flach an den Boden gedrückt, ängstlich und verwundert zugeschaut hatte, ohne das Bedürfnis zu verspüren, helfend einzugreifen.
Er hätte auch nicht gewusst, wem er helfen sollte; Althea Belashi, die ihr Leben mit Fäusten, Füßen und Zähnen verteidigte, oder ihrem Angreifer, der ebenfalls laut aufschrie und sich krümmte, als ihn ein Tritt an einer empfindlichen Stelle traf.
Ben war damals nicht fähig, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden. Er kannte nicht einmal den Unterschied zwischen Leben und Tod. Für ihn gab es nur Bewegung und Reglosigkeit. Es gab Dinge, die sich niemals von alleine bewegten, und andere, die es taten und plötzlich damit aufhörten. Wie die Hühner, die er für seine Mutter gefangen hatte, wie all die
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