Der Puppengräber
einem Kaugummiautomaten gezogen und sich als Zeichen der Verbundenheit mit der Liebe ihres Lebens über den Finger gestreift hatte.
Bärbel flüchtete in die Scheune, warf sich in die Reste von Stroh, weinte, jammerte, flüsterte Uwe von Burgs Namen, verfluchte im gleichen Atemzug den Idioten, der ihr das angetan hatte, wünschte ihm die Schweinepest oder einen anderen grauenhaften Tod mit der gesamten Inbrunst ihrer fünfzehn Jahre.
Nach zehn, inzwischen war es dunkel, kam Trude auf der Suche nach Ben durch die Scheune, las die in Tränen aufgelöste Tochter aus dem Stroh auf und versuchte in Erfahrung zu bringen, was ihren Zustand verursacht hatte. Aus den gestammelten Worten «Uwe – einfach losgefahren» zog Trude den Schluss, Illas und Tonis Ältester sei mit Bärbel so verfahren wie mit unzähligen Mädchen vor ihr.
Aus alter Gewohnheit und der Ansicht, dass eine sinnvolle Beschäftigung jeden Schmerz dämpfte, beauftragte sie Bärbel, bei der Suche nach Ben zu helfen. Widerwillig kam Bärbel auf die Beine und verlor kein Wort darüber, was sie Ben angetan hatte. Gemeinsam schritten sie den Garten ab, riefen nach ihm und bekamen keine Antwort.
Trude kontrollierte das Baumhaus, lockte und machte damit nur Gerta Franken aufmerksam, die erneut das Nachtglas ansetzte. Sie hatte von ihrem Kammerfensteraus bereits die Prügelszene beobachtet und wurde nun Zeugin einer weiteren Ungeheuerlichkeit, von der sie Illa von Burg zwei Tage später berichtete.
Da Ben im hohen Gras der Apfelwiese auf dem Bauch lag, sah Trude nichts von ihm. Sie ging auch davon aus, dass er die Gefahren des Trichters kannte und sich nicht zu nahe heranwagte. Trude vermutete ihn auf der Gemeindewiese und ging zielstrebig dem Feldweg entgegen. Bärbel wandte sich der Apfelwiese zu. Sie wusste, wo er zuletzt gelegen hatte. Und da lag er immer noch.
Als sie näher kam, rührte er sich endlich, robbte auf dem Bauch von ihr weg, vermutlich aus Furcht vor weiteren Schlägen. Die Wolldecke schleifte er an einem Zipfel hinter sich her. Er kam dem Pütz immer näher. Und Bärbel tat nichts, um ihn aufzuhalten oder ihre Mutter aufmerksam zu machen. Trude war bereits auf dem Feldweg, sah und hörte nichts.
Zuerst ragten nur Bens Kopf und die Schultern über den Rand des Trichters. Dann ein Stück vom Brustkorb. Unter dem sich verlagernden Gewicht gab das lockere Erdreich nach. Bärbel stand wie angewachsen und schaute zu. Er rutschte zusammen mit Grasbüscheln und Dreck in die Tiefe, ohne einen Laut von sich zu geben. Die Wolldecke segelte langsam hinter ihm her.
Ursprünglich war dieser Pütz zwölf Meter tief gewesen. Doch mit den Jahren war eine Menge überflüssiger Kram in ihm verschwunden. Der Bauschutt des ehemaligen Wohnhauses, Dachstuhl und Ziegel der alten Scheune, ausrangierte kleinere Möbelstücke. Oft genug hatte nachts ein Wagen hinter der Wiese gehalten. Oft genug hatten sich Dorfbewohner hier von Dingen getrennt, die lästig oder unbrauchbar geworden waren. Irgendwo zwischen all dem Müll lagen unzählige zerrissene Puppen und die Überreste von Althea Belashi. Obenauf lagenAstwerk von den Bäumen, armdicke Büschel vertrockneter Nesseln und verdorrter Disteln.
Erst zwei Wochen zuvor hatte Jakob auf der Wiese für ein wenig Ordnung gesorgt und eine tüchtige Fuhre in die Tiefe geworfen, weil er bald mähen wollte. So wurde Bens Sturz nach drei Metern gedämpft. Und den Verletzungen durch Bärbels Schläge wurden nur noch ein paar leichte Prellungen und Schrammen hinzugefügt. Die Wolldecke legte sich über ihn und verbarg ihn vor dem Nachthimmel.
Trude machte sich nach einer Viertelstunde mit besorgter Miene auf den Weg zurück ins Haus, Bärbel folgte langsam. Nach elf in der Nacht brach Trude zu einer erneuten Suche auf. Diesmal begleitet von Jakob, lief sie mit einer starken Taschenlampe in den Hühnerstall, leuchtete in jeden Winkel der Scheune, rannte die breite Ausfahrt zwischen Garten und Wiese entlang, rief und lockte, schmeichelte und bettelte.
Jakob schaute noch einmal im Baumhaus nach, spähte minutenlang in beide Richtungen den stockdunklen Feldweg entlang und überredete Trude, ihm wieder ins Haus zu folgen. Wenn man jetzt das Dorf absuchte und Erich Jensen Wind davon bekam, war es vorbei mit Bens Freiheit. Musste man eben über Nacht die Küchentür auflassen und hoffen, dass er heimkam. Er fand doch inzwischen immer alleine zurück.
Damit hatte Jakob nicht unrecht, aber seine Worte halfen Trude nicht. Sie war von
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