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Der Puppengräber

Der Puppengräber

Titel: Der Puppengräber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Hammesfahr
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Daumen über die Klinge. Scharf war sie nicht. Er steckte es trotzdem in die Hosentasche. Dann ging er in den Keller, schlüpfte in seine Gummistiefel, befestigte den Spaten mit dem Karabinerhaken am Taillenriemen und machte sich auf den Weg.
    Kaum im Freien, verfiel er in seinen gewohnten Trab, lief zur Abzweigung, bog nach links ab. Bei der Apfelwiese machte er halt. Die mannshohen Bäumchen mit den flachen, buschigen Kronen, das hohe Gras und die tiefen Senken der ehemaligen Trichter, alles war mehr zu ahnen als zu sehen.
    In regelmäßigen Abständen waren Holzpflöcke in den Boden getrieben worden, sie überragten ihn noch, wenn er aufrecht stand. Auf den Pflöcken war der Draht festgenagelt, Lage um Lage, zehn Lagen insgesamt, dazwischen jeweils zwanzig Zentimeter Spielraum, zu wenig, um unverletzt durchkriechen zu können.
    Unverzüglich nach dem Umzug der Familie Schlösser hatte die Stadtverwaltung die Wiese und Trudes Gemüsegarten einzäunen lassen. Den Rest hatte die Natur besorgt. Die ehemals akkuraten Beete unterschieden sich nicht mehr von den angrenzenden Landstücken. DerDraht hatte sich schon manche Nacht als schlimmer Feind erwiesen. Blutige Hände, zerrissene Hosen und Hemden, das besorgte Gesicht seiner Mutter und ihre Fragen am nächsten Morgen, die er nicht beantworten konnte.
    Warum es ihn immer wieder auf die Wiese zog? Andere besuchten den Friedhof, wenn sie ihrer Lieben gedenken wollten, oder sie schauten sich Fotografien an. Das brauchte er nicht. Er legte sich auf die Wiese. Die Bilder hatte er alle in seinem Kopf, und dort waren sie entschieden lebendiger, als ein Foto es jemals sein konnte. Das Gras hatte sogar noch ihren Geschmack, ihren Geruch.
    In seinem Kopf zog die kleine Karawane immer noch die Bachstraße hinunter, schwang Althea Belashi immer noch hoch oben am Trapez, zeigte immer noch Kunststücke auf einem Ponyrücken. Und er saß vor ihr, fühlte ihren biegsamen Körper in seinem Rücken. Der Geruch der Pferde vermischte sich mit ihrem Duft, mit ihrer Wärme und der Weichheit ihrer Haut.
    Und auf all das Schöne folgte in seinem Kopf die Nacht mit ihrem großen Mysterium, als sie in diesem Loch verschwand und so lange Zeit nicht wieder herauskam. Aber sie war zurückgekommen. Im vergangenen November hatte er sie wiedergesehen – bei der Hochzeit von Andreas Lässler. Und in der Nacht im August war er ihr noch einmal begegnet. Und jetzt war sie dort, wo sein Vater die Puppen begraben sehen wollte.
    Aber er sah sie lieber am Trapez, fühlte sie lieber in seinem Rücken. Manchmal schaffte er es, sich unter dem Draht durchzuschieben, ohne sich zu verletzen oder sein Hemd zu zerreißen. Es kam darauf an, an welcher Stelle er es versuchte. An manchen war der Boden etwas tiefer und der Draht nicht so straff gespannt. Wenn er sich ansolch einer Stelle flach auf den Boden drückte und vorwärts robbte, hatte er Glück.
    In gebückter Haltung schlich er seitlich am Zaun entlang, fasste einmal an eine Stelle, an der ihm der Boden etwas tiefer und der Draht nicht so straff schien. Sofort bohrten sich zwei Dornen in seine linke Handfläche. Er zog die Luft ein, führte die Hand an den Mund und leckte die kleinen Wunden ab. Sekundenlang stand er da und beäugte die Drähte voll Enttäuschung und Misstrauen. Dann wollte er es an einer anderen Stelle versuchen.
    Doch als er sich aufrichtete, vergaß er die schmerzende Hand und das Grab auf der Wiese. Er sah die Lichtglocke auf dem Mais hinter dem Haus seines Freundes und ging zurück auf den Weg. Die vierhundert Meter bis zum Mais lief er, bog vom Weg ab, schritt aufrecht quer durch das Feld, bis er die Rückseite und das erleuchtete Fenster einsehen konnte. Er wollte schon die Arme heben, um zu winken, damit sein Freund ihn bemerkte und eine Schokolade herausbrachte. Aber dann sah er sie und vergaß auch das Verlangen nach einer Süßigkeit.
    Ihr kurzgeschnittenes Haar täuschte ihn nur wenige Sekunden. Die schmalen Schultern und die runden Brüste in der karierten Bluse machten rasch deutlich, was sie war.
    «Fein», flüsterte er und fühlte Erregung aufsteigen.
    Sie saß in einem Sessel, davor stand ein niedriger Tisch, der ihre Beine und den Unterleib verdeckte. Neben dem Sessel stand der Rucksack, darüber lag die bunte Wetterjacke. Sein Freund Lukka war auch im Zimmer, stand vor einem Schrank, füllte ein Glas und brachte es ihr. Als sie den Kopf hob, um zu trinken, lächelte sie zum Fenster hinüber, ein bisschen wehmütig und

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