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Der Rabbi

Der Rabbi

Titel: Der Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Gordon
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werden?
    Er begann, über Gott nachzudenken.
    Er begann zu lesen. Er las die ganze Nacht lang, wenn er nicht schlafen konnte, und er las unter Tags, bis er endlich gegen Abend über einem Buch einschlief. In den Cypress News las er, daß ein jüdischer Gottesdienst stattfinden sollte, und er nahm daran teil.
    Als die Gottesdienste zu einer allfreitäglichen Einführung wurden, zählte er zu den regelmäßigen Besuchern. Er kannte fast alle Leute dort, und jeder wußte, daß er krankheitshalber von der Universität nach Hause gekommen war. Sie waren taktvoll, und die Frauen flirteten tapfer mit ihm und bemutterten ihn und fütterten ihn beim oneg schabat.
    Aber er fand keine Antwort im Gottesdienst. Vielleicht, dachte er, wenn sie ein religiöses Oberhaupt hätten, einen Rabbiner, der ihm helfen könnte, die Antwort auf seine Fragen zu finden. Ein Rabbiner müßte ihm doch zumindest sagen können, was er als Jude nach dem Tod zu erwarten hatte.
    Als aber der Rabbiner nach Cypress kam, stellte Dick fest, daß Michael Kind jung war und selbst etwas unsicher aussah. Obwohl er weiterhin getreulich jedem Gottesdienst im Tempel beiwohnte, wußte er doch, daß er von einem so gewöhnlichen Mann das Wunder nicht erwarten konnte, das er brauchte.
    An einem Sonntag, als er vor dem Fernsehapparat auf den Beginn der Sportschau wartete, sah Dick die letzten zehn Minuten der Übertragung von Billy Joe Rayes Show. Im weiteren Verlauf des Programms sah er Fischer, die im zugefrorenen Michigansee Weißfische fingen, dann bronzebraune Männer und goldbraune Mädchen, die sich in katalanischer Brandung tummelten, und er gestattete seinen Gedanken nicht, dem vorangegangenen religiösen Programm nachzuhängen. Doch am folgenden Sonntag rasierte und kleidete er sich mit Sorgfalt und reihte sich, statt vor dem Bildschirm zu sitzen, ohne viel Überlegen in die Wagenkolonne ein, die dem Zelt des Wuntertäters zustrebte.
    Auf Billy Joes Frage nach jenen, die ihren Frieden mit Jesus zu machen wünschten, hatte er die Hand nicht erhoben, aber er hatte die Karte genommen und unterschrieben, mit der die Gläubigen um ein persönliches Gespräch mit dem Wundermann ansuchten.
    Während er in der langsam auf die Bühne sich zubewegenden Reihe stand, beobachtete er die Leute, die das Podium verließen. Ein Mann und nach ihm eine Frau warfen unter Triumphgeheul ihre Krücken von sich, ja die Frau tanzte sogar durch den Mittelgang.
    Andere stiegen verkrüppelt, verfallen oder irr die Stufen hinauf und verließen die Bühne am anderen Ende, allem Augenschein nach unverändert. Eine Frau tat zwei zögernde Schritte und warf dann leuchtenden Blickes ihre Krücken von sich; wenige Minuten später war sie zu Boden gefallen und kroch zu ihren Krücken hin, und ihr Gesicht war verwüstet von Verzweiflung. Aber weder sie noch einen der anderen Enttäuschten behielt Dick in Erinnerung. Er hatte das Wunder von Billy Joes Händen gesehen, und er sah immer neue Beweise.
    Unmittelbar vor ihm stand ein etwa zehnjähriges taubes Mädchen.
    Nachdem Billy Joe für sie gebetet hatte, bedeutete er ihr, sich mit dem Gesicht zur Menge zu drehen, und sprach, da sie seine Lippen nicht mehr sehen konnte:
    »Sprich mir nach: Ich liebe dich, mein Gott.« »Ich liebe dich, mein Gott«, sagte das Mädchen.
    Billy Joe umfaßte ihren Kopf mit beiden Händen. »Sehet, was Gott gewirkt hat«, sprach er feierlich zu der jubelnden Menge. Nun war Dick an der Reihe. »Was fehlt dir, mein Sohn?« fragte der Wuntertäter, und Dick nahm die Linse wahr, die wie ein anklagendes Auge auf ihn gerichtet war, und einen kleinen Hebel an der einen Seite der Kamera, der sich unablässig drehte und drehte.
    »Krebs.«
    »Knie nieder, mein Sohn.«
    Er sah die Schuhe des Mannes, feine braune Schweinslederschuhe, die braunen-Seidensocken, deren straffer Sitz Sockenhalter verriet, die Aufschläge beigefarbiger Leinenhosen, die maßgeschneidert aussahen. Die großen Hände des Mannes legten sich über Dicks Augen, über sein Gesicht. Die Fingerspitzen gruben sich in seine Wangen, in seine Kopfhaut, und die Handflächen, die nach dem Schweiß anderer Gesichter rochen, so daß Dick leicht schwindlig wurde, drückten auf seine Nase und seinen Mund und beugten seinen Kopf zurück.
    »O Herr«, sagte Billy Joe, während er Dicks Augen zudrückte, »die bösen Geister der Fäulnis fressen an diesem Mann, sie verschlingen ihn, Zelle um Zelle.
    Herr, zeig diesem Mann, daß Du ihn liebst. Rette sein Leben, auf daß

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