Der Rabbi
Studien über Tempelarchitektur.
Er hatte einen Text niedergeschrieben, der, wie ihm schien, ein vernünftiges Grundkonzept für den Bau eines modernen Gotteshauses enthielt. Da die ehemalige St.-Jeremiah-Kirche den bescheidenen Ansprüchen der Gemeinde vom Tempel Isaiah mit Leichtigkeit genügen konnte, wußte Michael mit dem Resultat seiner Studien nichts Besseres anzufangen, als es zu publizieren. Er schrieb einen Artikel, den er dem Blatt der Zentralkonferenz Amerikanischer Rabbiner einreichte und der dort auch erschien. Er schickte je eine Nummer der Zeitung an seinen Vater in Atlantic City und an Ruthie und Saul in Israel, dann packte er all seine Notizen in einen Pappkarton, führte ihn nach Hause und verstaute ihn auf dem winzigen Dachboden in der Kommode aus der elterlichen Wohnung, die zu verkaufen er und Leslie sich nicht hatten entschließen können.
Nun, da diese Arbeit abgeschlossen war, hatte er noch mehr unausgefüllte Zeit als zuvor. Eines Nachmittags kam er um halb drei Uhr nach Hause. Leslie war eben damit beschäftigt, ihre Einkaufsliste zusammenzustellen.
»Post ist gekommen«, sagte sie.
Es war der neue Vertrag, den Phil Golden ihm angekündigt hatte.
Bei seiner Durchsicht stellte Michael fest, daß er äußerst großzügig war, über fünf Jahre lautete und eine beträchtliche Steigerung seines Einkommens mit dem Beginn jedes neuen Jahres vorsah. Michael wußte, daß er nach Ablauf der fünf Jahre einen Vertrag auf Lebensdauer bekommen würde.
Er legte das Schriftstück achtlos auf den Tisch, und Leslie las es, ohne einen Kommentar abzugeben.
»Es ist so gut wie eine Jahresrente«, sagte er. »Vielleicht fange ich an, ein Buch zu schreiben. Zeit hab ich ja genug.«
Sie nickte und beschäftigte sich wieder mit ihrer Einkaufsliste. Er unterschrieb den Vertrag nicht, sondern verwahrte ihn vorläufig im obersten Fach seines Schlafzimmerschranks unter der Schachtel mit den Manschettenknöpfen.
Er kam zurück in die Küche, setzte sich zu Leslie an den Tisch, rauchte und sah ihr zu.
»Ich werde die Einkäufe für dich besorgen«, sagte er.
»Das kann ich doch machen. Du hast sicher etwas anderes zu tun.«
»Ich habe gar nichts zu tun.«
Sie musterte ihn mit einem schnellen Blick und setzte zu einer Antwort an, besann sich aber dann anders.
»Gut«, sagte sie.
Ein paar Tage später kam der Brief:
23 Park Lane Wyndham, Pennsylvania 3. Oktober 1953
Rabbi Michael Kind Tempel Isaiah
2103 Hathaway Street San Francisco, Kalifornien Lieber Rabbi Kind,
der Geschäftsführende Ausschuß des Tempels Emeth in Wyndham hat mit nicht geringem Interesse Ihren programmatischen Artikel in dem neu gegründeten und ganz ausgezeichneten CCAR Journal gelesen.
Tempel Emeth ist eine seit einundsechzig Jahren bestehende reformierte Gemeinde in der Universitätsstadt Wyndham, fünfunddreißig Kilometer südlich von Philadelphia. Der Zuwachs in den letzten Jahren brachte es mit sich, daß unser fünfundzwanzig Jahre alter Tempel nun wirklich zu klein geworden ist. Da wir vor der Notwendigkeit stehen, über einen Neubau zu beschließen, war uns Ihr Artikel besonders wichtig. Er wurde hier zum Gegenstand zahlreicher Diskussionen.
Rabbi Philip Kirschner, der sechzehn Jahre lang unser geistliches Oberhaupt war, zieht sich am 15. April 1954 zu wohlverdientem und, wie wir hoffen, zufriedenem Ruhestand in seiner Heimatstadt St. Louis, Mo., zurück. Wir möchten seinen Posten gern mit einem Mann besetzen, der uns sowohl ein mitreißendes geistliches Oberhaupt sein kann, als auch darüber nachgedacht hat, wie ein jüdischer Tempel im modernen Amerika beschaffen sein müßte.
Wir würden die Gelegenheit begrüßen, dies mit Ihnen zu besprechen.
Ich werde vom 15. bis 19. Oktober in Los Angeles sein, um am Kongreß der Gesellschaft für moderne Sprachen an der University of California teilzunehmen. Wir wären Ihnen dankbar, wenn Sie auf Kosten des Tempels Emeth während dieser Zeit per Flug nach Los Angeles kommen könnten. Sollte dies unmöglich sein, würde ich trachten, nach San Francisco zu kommen. Ich habe den Besetzungsausschuß der Union of American Hebrew Congregations von unserer Absicht unterrichtet, mit Ihnen über die bevorstehende Vakanz an unserem Tempel zu verhandeln.
Ihrer Antwort sehe ich mit großem Interesse entgegen und verbleibe Ihr ergebener Felix Sommers,
Ph. D. Präsident des Tempels Emeth
»Wirst du fahren?« fragte Leslie, als er ihr den Brief zeigte. »Es kann wohl nichts schaden,
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