Der Rabbi
Kleider den Sand berührten, und sah undeutlich das Weiß von Ellens Körper. Er hörte das Geräusch ihrer Nägel auf der nackten Haut, als sie sich kratzte; er konnte nicht sehen, wo sie sich kratzte, aber das Geräusch war so überaus intim, daß ihm eines ganz klar wurde: entdeckte Ellen Trowbridge ihn jetzt, wie er da im Sand kniete, ein ungebetener Voyeur, nie wieder würde sie auch nur ein Wort mit ihm sprechen.
Sie ließ sich ins Wasser fallen wie ein Stein. Dann hörte er keinen Laut mehr. Jetzt wäre es Zeit für ihn gewesen, zu gehen, so schnell und so leise wie möglich. Aber nun hatte er Angst um sie. Selbst der beste Schwimmer springt nicht mitten in der Nacht allein ins Meer.
Er dachte an Wadenkrämpfe, an Unterwasserströmungen, ja selbst an die Haie, von denen alle paar Jahre einmal berichtet wurde, sie hätten einen Schwimmer angefallen. Er war nahe daran, nach ihr zu rufen, da hörte er das Platschen des Wassers und sah die Weiße ihres Körpers, als sie an Land kam. Schuldbewußt nahm er die Gelegenheit wahr, sich mit einer laut heranrauschenden Woge in den Sand fallen zu lassen, das Gesicht in den Armen versteckt, während das Wasser an seinen Beinen hinaufspülte und seine Jeans bis an die Hüften durchnäßte.
Als er aufblickte, war sie nicht mehr zu sehen. Wahrscheinlich stand sie ganz in seiner Nähe und ließ ihren Körper von der warmen Brise trocknen. Es war sehr dunkel und sehr still, bis auf das Rauschen des Atlantiks. Plötzlich hörte er, wie sie sich auf die Hinterbacken klatschte, hörte, wie sie lief und sprang, lief und sprang. Ein paarmal kam sie ihm gefährlich nahe, ein weißer Schatten, der sich hob und fallen ließ wie eine verspielte Möwe. Obwohl er nie ein Ballett auf der Bühne gesehen hatte, wußte er doch, daß sie tanzte zu einer Musik, die sie innerlich hörte. Er lauschte ihrem Atem, der schneller ging, wenn sie sprang, und er wünschte sich, einen Schalter drücken zu können, so daß die Szene hell würde, daß er sie sehen könnte, wie sie da tanzte, ihr Gesicht, ihren Körper, das Auf und Ab ihrer Brüste im Sprung, all die Stellen ihres Körpers, die er sie berühren gehört, und alle, die sie nie berührt hatte. Aber es gab keinen Schalter, und bald wurde sie müde und hörte auf zu tanzen. Eine Weile noch blieb sie schwer atmend stehen, dann hob sie ihre Kleider auf und schritt nackt zurück, woher sie gekommen war. Am Strand gab es eine frei zugängliche Dusche, wo die Gäste sich Sand und Salz von der Haut waschen konnten. Er hörte es zischen, wie sie an der Kette zog -
dann war die Nacht ganz still.
Er wartete noch eine Weile, um sicher zu sein, daß sie fort war, dann kehrte er zu dem Podest zurück und holte seine Tennisschuhe. Später, wieder in der Unterkunft, zog er seine nassen Jeans aus und hängte sie zum Trocknen auf. Beim Schein eines Streichholzes sah er auf seine Uhr: zehn Minuten nach vier. Er streckte sich auf seine Pritsche und lauschte dem häßlichen Ge-schnarche der allzu vielen Männer, die da unter einem Dach schliefen. Seine Augen brannten, aber er war hoffnungslos wach.
Lieber Gott, dachte er, bitte hilf mir. Ich bin verliebt in eine schiksse.
9
Am nächsten Dienstag regnete es. Er erwachte und lauschte dem Getrommel auf dem geteerten Dach mit einem Gefühl dumpfer Resignation. Er hatte keinen Versuch mehr gemacht, sie zu sehen -
seine blonde Taube, seine nackte Amazone, seine Tänzerin im Dunkel, seine Ellen -, keinen Versuch mehr seit jenem einen verstohlenen am Strand. Statt dessen hatte er Tag und Nacht davon geträumt, wie der Dienstagnachmittag sein werde. Jetzt wußte er es: verregnet.
Bobby Lee sah ihn lange an, als er um ein Lunchpaket bat.
»Wo willst du denn heute picknicken?«
»Vielleicht hört's auf.«
»Hört nicht auf.« Aber er packte ihm seinen Lunch ein. Zu Mittag, als Michael seine Arbeit beendete, war der Regen zwar feiner und stiller geworden, aber um nichts weniger anhaltend; der Himmel war einförmig grau.
Er hatte vorgehabt, sie um zwei Uhr abzuholen. Aber jetzt schien das ganz sinnlos. Es gab keinen Platz, wohin er mit ihr gehen konnte. »Der Teufel soll es holen«, sagte er zu der Spinne und griff nach Aristoteles. Es war still in der Unterkunft. Niemand war da außer ihm, der Spinne und Jim Ducketts, dem grauhaarigen alten Chauffeur, der nahe der Tür auf seiner Pritsche lag und in einer Illustrierten blätterte. Ducketts war nur auf Abruf hier, und als es gegen drei an der Tür klopfte,
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