Der Rabbi
die Steine zu seinen Füßen fielen.
Irgend jemand schluchzte. Schließlich merkte er, daß das, was er hörte, sein eigenes Schluchzen war. Zwei Mädchen kamen aus der Bibliothek, blieben stehen und glotzten ihn an.
»Ist er betrunken?« fragte die eine. »Soll ich einen Polizisten holen?«
Die andere kam auf ihn zu. »Evelyn«, sagte die erste, »sei vorsichtig! «
Wie peinlich, dachte er.
Das Mädchen beugte sich über ihn. Sie trug eine Brille, hatte vorspringende Zähne und Sommersprossen. Ihre Jacke war blau und wollig. Sie schnupperte und verzog das Gesicht. »Besoffen wie ein Schwein«, sagte sie. »Das heulende Elend.« Mit entrüstet klappernden Absätzen verschwand sie in der Dunkelheit. Michael wußte, daß sie recht hatte. Auf seinen Wangen waren keine Tränen. Er weinte nicht, weil sein sejde unter der Erde lag oder weil er Angst hatte, Ellen Trowbridge zu lieben. Er schluckte und schluchzte, weil der Wind die Fetzen des Briefes in Richtung Broadway blies, anstatt, wie er es gewünscht hatte, in Richtung Amsterdam Avenue. Dann drehte sich der Wind, und die Brieffetzen flatterten eilig nach der richtigen Seite.
Michael schluchzte trotzdem weiter. Es tat so wohl.
Zweites Buch
Zug durch die Wüste
Woodborough, Massachusetts November 1964
12
Oberschwester Mary Margaret Sullivan nahm breithüftig hinter dem Schreibtisch in ihrem Büro Platz. Seufzend langte sie hinüber zum Aktenregal und holte einen Ordner in Metallfolie heraus. Ein paar Minuten lang schrieb sie mit kratzender Feder den Bericht über einen Vorfall auf der Station Templeton: Mrs. Felicia Seraphin hatte eine andere Frau mit ihrem Schuhabsatz ins Gesicht geschlagen.
Am Ende ihres Berichtes angelangt, betrachtete sie gedankenverloren den Wasserkessel und die Kochplatte, die auf einem Aktenschrank an der gegenüberliegenden Wand standen. Als Rabbi Kind zur Tür hereinsah, hatte sie eben entschieden, daß der Kaffee die Anstrengung des Aufstehens nicht wert sei.
»Ah, unser Rabbiner«, sagte sie.
»Wie geht's, Maggie?« Er trat ein, einen Stoß Bücher im Arm.
Sie erhob sich mühsam, ging zum Schrank um zwei Tassen und schaltete im Vorbeigehen die Kochplatte ein. Sie stellte die Tassen auf den Schreibtisch und holte eine Dose mit Pulverkaffee aus der obersten Lade.
»Keinen Kaffee für mich, bitte. Ich will nur meiner Frau diese Bücher bringen.«
»Sie ist drüben in der Arbeitstherapie. Wie die meisten.« Schwerfällig setzte sie sich wieder. »Wir haben eine neue jüdische Patientin auf der Station, vielleicht könnten Sie versuchen, mit ihr zu reden. Sie heißt Hazel Birnbaum. Mrs. Birnbaum. Das arme Ding glaubt, daß wir alle uns gegen sie verschworen haben, um sie fertigzumachen.
Schizo.«
»Wo liegt sie?«
»Auf Siebzehn. Wollen Sie nicht vorher Kaffee trinken?«
»Nein, danke. Aber ich werde nach ihr sehen. Wenn nachher noch Zeit bleibt, hätte ich gern eine Tasse.«
»Nachher wird's keinen mehr geben. Der Kaplan kommt.« Lächelnd ging er durch die fast menschenleere Abteilung. Alles war so bedrückend sauber; das Ergebnis rastlosen Bemühens ... In Zimmer siebzehn lag eine Frau auf dem Bett.
Ihr Haar hob sich schwarz und wirr von dem weißen Kissen ab.
Mein Gott, dachte er, die sieht meiner Schwester Ruthie ähnlich.
»Mrs. Birnbaum?« sagte er und lächelte. »Ich bin Rabbi Kind.« Ein schneller Blick aus den großen blauen Augen traf ihn sekundenlang und wandte sich dann wieder zur Zimmerdecke.
»Ich wollte Ihnen nur guten Tag sagen. Kann ich irgend etwas für Sie tun?«
»Gehen Sie, bitte«, sagte sie. »Ich wünsche niemanden zu belästigen.«
»Ist schon gut, ich bleibe nicht, wenn Sie es nicht wollen. Ich mache regelmäßig die Runde durch die Abteilung. Ich werde nächstens wieder vorbeikommen.«
»Morty hat Sie hergeschickt«, sagte sie. »Aber nein, ich kenne ihn nicht einmal.« »Sagen Sie ihm, er soll mich in RU-HE LAS-SEN! «
Nicht schreien, dachte er, ich bin hilflos gegen Schreien. »Ich komme bald wieder, Mrs. Birnbaum«, sagte er. Ihre Beine und Füße waren bloß, und es war kalt im Zimmer. Er griff nach der grauen Decke am Fußende des Bettes und deckte die Frau damit zu, aber Mrs.
Birnbaum begann zu strampeln wie ein ungezogenes Kind. Eilends verließ er den Raum.
Leslies Zimmer lag am anderen Ende des Korridors, um die Ecke. Er legte die Bücher auf ihr Bett, riß eine Seite aus seinem Notizbuch und schrieb darauf: »Ich komme nochmals am Nachmittag. Du warst in der
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