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Der Rabbi

Der Rabbi

Titel: Der Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Gordon
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Arbeitstherapie. Hoffentlich machst du dort was Brauchbares -
    zum Beispiel Männersocken ohne Löcher.«
    Auf dem Rückweg warf er einen Blick in Maggies Büro, um sich von ihr zu verabschieden. Aber die Oberschwester war nicht da. Aus dem Wasserkessel strömte Dampf und erzeugte einen nassen Fleck an der Decke. Michael zog den Stecker heraus, überlegte, daß er noch Zeit hatte, und goß Wasser in eine der Tassen.
    Während er langsam seinen Kaffee trank, notierte er: ZU ERLEDIGEN: Woodborough General Hosp. Susan Wreshinsky, Entbindungsabtlg. (Bub, Mdch.?) Maseltow wünschen.
    Lois Gurwitz (Enkln. v. Mrs. Leibling), Apndx. Jerry Mendelsohn, Beinamp. Bibliothek Bialik Biogr. bestellen Mikrofilm NY Times, jüdische Wachen in Wohnvierteln mit Rassenunruhen, für Predigt.
    Er sah den Namen seiner Frau auf einem der Ordner im Aktenschrank, und unwillkürlich griffen seine Hände nach dem Faszikel. Er zögerte nur kurz, bevor er ihn öffnete. Während er die Papiere durchblätterte, nahm er noch einen Schluck Kaffee und begann dann zu lesen.
     
    Woodborough State Hospital Patientin: Mrs. Leslie (Rawlings) Kind Falldarstellung, vorgetragen bei Mitarbeiterbesprechung am 21. Dezember 1964
    Diagnose: Involutionsmelancholie
    Patientin ist attraktiv und gut aussehend, Weiße, vierzig Jahre alt, in guter körperlicher Verfassung.
    Haar: dunkelblond; Größe: 1,68 m; Gewicht: 64 kg.
    Sie wurde am 28. August 1964 von ihrem Gatten ins Spital gebracht.
    Präpsychotische Symptomatik: »neurasthenischer« Zustand, Pat. klagte darüber, daß ihr alles zuviel werde, daß sie körperlich und geistig schnell ermüde, reizbar und unruhig sei und unter Schlaflosigkeit leide.
    Während der ersten elf Wochen in der Anstalt blieb Pat. stumm. Oft sah es aus, als wolle sie weinen, sei aber unfähig, sich diese Erleichterung zu verschaffen.
    Nach dem zweiten Elektroschock - Pat. erhielt bis zum heutigen Datum neun von den verordneten zwölf Schocks - kehrte die Sprache wieder. Thorazine scheint gute symptomlindernde Wirkung zu haben, wurde nun aber ersetzt durch Pyrrolazote in allmählich steigender Dosierung bis zu 200 mg. q. i. d.
    Keine nennenswerte Amnesie nach der Schockbehandlung. Pat.
    berichtet ihrem Psychiater im Laufe der vergangenen Woche, sie erinnere sich, geschwiegen zu haben, weil sie niemandem ihre Schuldgefühle anvertrauen wollte, die sich aus der Entfremdung von ihrem Vater herleiteten sowie aus dem Gefühl, wegen einer zwei Jahrzehnte zurückliegenden vorehelichen Sexualerfahrung als Collegestudentin nun eine schlechte Frau und Mutter zu sein. Pat. hat dieses Erlebnis ihrem jetzigen Gatten vor ihrer Heirat mitgeteilt und kann sich nicht erinnern, sich je wieder damit beschäftigt oder auch nur daran gedacht zu haben - bis es ihr vor einigen Monaten plötzlich wieder in den Sinn kam. Sie erinnert sich jetzt deutlich an die ihrer Erkrankung vorausgehenden Schuldgefühle wegen jener frühen Sexualbeziehung und des Verlustes der väterlichen Liebe, doch scheinen sie diese Gefühle nicht länger zu quälen. Sie macht jetzt einen ruhigen und optimistischen Eindruck.
    Die sexuellen Beziehungen zu ihrem Gatten schildert Pat. als gut. Die Menstruation ist seit fast einem Jahr unregelmäßig. Bei der gegenwärtigen Erkrankung handelt es sich offensichtlich um einen agitierten wahnhaften Depressionszustand der beginnenden Wechseljahre.
    Pat. ist die Tochter eines Congregationalisten-Geistlichen und trat, ehe sie vor achtzehn Jahren ihren jetzigen Gatten, einen Rabbiner, heiratete, zum Judentum über. Sie scheint der jüdischen Religion zutiefst verbunden zu sein; Gegenstand ihrer Schuldgefühle ist nicht ihr Austritt aus dem Christentum, sondern ihr Verhalten dem Vater gegenüber, das sie als Verrat an ihm erlebt hat. Im Elternhaus der Patientin spielte die Lehre der Bibel eine entscheidende Rolle; seit ihrer Heirat widmete sich Pat. dem Studium des Talmud und genießt, nach Aussage ihres Gatten, die Freundschaft und Bewunderung anerkannter Autoritäten rabbinischer Schulen.
    Mr. Kind scheint als Geistlicher etwas strenge Vorstellungen hinsichtlich des Verhaltens seiner Gemeinde zu haben; als Folge davon führte die Familie ein ziemlich unstetes Wanderleben. Dies bedeutete offensichtlich eine gewisse emotionale Belastung für beide Ehepartner.
    Trotzdem ist die Prognose des Falles gut.
    Ich empfehle, nach dem zwölften Elektroschock die Entlassung der Patientin aus der Anstaltspflege in Betracht zu ziehen. Fortsetzung der

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