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Der Rabbi

Der Rabbi

Titel: Der Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Gordon
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verwildert. Die Augen waren blicklos, die Lippen trocken und aufgesprungen; sie bewegten sich, aber Michael konnte die Worte nicht entziffern, die sie zu bilden versuchten.
    »Will er uns nicht etwas sagen?«
    Sein Vater machte eine müde verneinende Geste. »Er redet nur wirr vor sich hin. Manchmal glaubt er, er ist ein kleiner Junge. Manchmal spricht er mit Leuten, von denen ich nie gehört hab. Zumeist schläft er - und der Schlaf wird länger und längen«
    »Gestern hat er oft nach dir gerufen«, fügte Abe nach einem kurzen Schweigen hinzu. »Nach mir hat er nicht gerufen, kein einziges Mal.«
    Darüber dachten sie beide nach und schwiegen noch, als die Mutter, mit ihren hohen Absätzen klappernd, vom Abendessen kam. »Hast du was gegessen?« fragte sie und küßte Michael. »Gleich um die Ecke ist ein gutes Delikatessengeschäft. Komm, ich geh mit dir. Die haben eine ordentliche Suppe.«
    »Ich habe gegessen«, log er. »Erst vor kurzem.«
    Sie redeten ein wenig, aber es gab eigentlich nichts zu sagen, nichts, was so wichtig gewesen wäre wie der alte Mann im Bett.
    Beim Fenster stand noch ein zweiter Stuhl, und die Mutter setzte sich, und Michael blieb stehen, von einem Fuß auf den andern tretend. Der Vater begann mit den Fingergelenken zu knacken.
    Erst die eine Hand. Pop.
    Pop. Pop. Pop. Dann die andere.
    Pop.
     
    Pop. Pop. Pop. Nur der Daumen gab keinen Laut, wie heftig sich Abe auch bemühte.
    »Oi, Abe«, sagte Michaels Mutter irritiert. Sie betrachtete die Hände ihres Sohnes und bemerkte jetzt erst mit Erschrecken seinen verbundenen Finger. »Was hast du dir denn gemacht?«
    »Gar nichts. Nur ein Schnitt.«
    Aber sie bestand darauf, die Verletzung zu sehen, und quälte ihn dann so lange, bis er gehorsam mit ihr zu Dr. Benjamin Salz hinüberging. Der Arzt, ein Mann in mittleren Jahren mit beginnender Glatze und englischem Schnurrbart, lag hemdärmelig auf der Couch in seinem Büro und blätterte in einer zerlesenen Esquire-Nummer.
    Verdrossen stand er auf, nachdem Dorothy ihr Anliegen vorgebracht hatte, warf einen gleichgültigen Blick auf Michaels Finger und erledigte die Angelegenheit mit zwei sauberen Injektionen. Der Schmerz, der schon auf ein erträgliches, beinahe gewohntes Maß abgeflaut war, erwachte daraufhin mit neuer Heftigkeit.
    Der Arzt blickte sehnsüchtig auf den Esquire, während Dorothy ihn zuerst über Michael und dann über den Großvater ausfragte. Michael solle den Finger in heißer Bittersalzlösung baden, sagte er. Und was Mr. Rivkind betraf: er wisse nicht, wie lange es dauern werde. »Er ist zäh. Alte Leute von seinem Schlag brauchen manchmal sehr lang.«
    Als sie ins Krankenzimmer zurückkamen, war der Vater eingeschlafen; sein Mund war geöffnet, das Gesicht grau. Eine Stunde später bat Michael seine Mutter, ein Taxi zu nehmen und nach Hause zu fahren; er konnte sie dazu nur durch die Versicherung bewegen, daß er bleiben wolle und ihren Sessel brauche. Um halb elf ging sie weg, und Michael schob den Sessel neben das Bett des alten Mannes, setzte sich und sah ihn an. In seinem Finger pochte ein unablässiger Schmerz, der Vater schnarchte, der Sauerstoff zischte leise, und in den Lungen des sejde stieg leise glucksend das Wasser, das ihn unendlich langsam von innen her ertränkte.
    Um Mitternacht - er war ein wenig eingedöst - weckte ihn eine schwache Stimme, die ihn auf jiddisch beim Namen rief: »Michele?
    Michele?« Und nochmals: »Michele?«
    Er wußte, daß Isaac nach dem kleinen Michele Rivkind rief, und er wußte auch, mehr schlafend als wachend, daß er Michael Kind war und nicht antworten konnte. Schließlich, mit einem Ruck sich ermunternd, beugte er sich vor und schaute durch das Plastikfenster.
    »Sejde?« sagte er.
    Isaacs Augen verdrehten sich in ihren Höhlen. Stirbt er, dachte Michael, stirbt er jetzt, mit keinem anderen Zeugen als mir? Er dachte daran, seinen Vater zu wecken oder den Arzt zu holen, aber statt dessen öffnete er den Reißverschluß des Sauerstoffzelts, schob Kopf und Schultern durch die Öffnung und ergriff die Hand seines Großvaters. Sie war weich und warm, aber so leicht und trocken wie Reispapier.
    »Hello, sejde.«
    »Michele«, flüsterte er, »ich schtarb.« Seine Augen waren trüb. Er sagte, er wisse, daß er sterben müsse. Wieviel von den Gesprächen im Krankenzimmer hatte er gehört und verstanden? Michael wurde wütend auf seinen schnarchenden Vater, der sich in schuldbewußtem Kummer so selbstsüchtig sicher in der Lüge

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