Der Rabbi
Abend der Trauerwoche kam Michaels Schwester Ruthie aus Palästina zurück.
Sie hatten ihr nicht telegraphiert, und nach einem ersten Blick auf die verhängten Spiegel brach sie in hysterisches Weinen aus, das auch die Tränen der Eltern von neuem fließen ließ. Aber allmählich beruhigten sich die erregten Gefühle. Die ganze Woche lang gab es zu viele Leute in der Wohnung der Kinds - und zu viel zu essen. Tag für Tag kamen Leute, die eßbare Geschenke brachten - und Tag für Tag wurde eine Menge der Speisen von gestern weggeworfen. Die meisten wirklichen Freunde des sejde waren tot. Die Besucher waren Freunde der Familie Kind, Nachbarn, Kunden und Angestellte von Abes Firma. Sie brachten Kuchen und Obst und kaltes Fleisch und gehackte Leber und Nüsse und Süßigkeiten. Mimi Steinmetz kam und drückte Michael die Hand, während ihr Vater seinem Vater riet, einen Dauerauftrag für die Grabpflege zu geben, dann mußte man sich nicht jedes Jahr über Einzelheiten den Kopf zerbrechen und brauchte nicht weiter daran zu denken.
Michael dachte viel nach über alles, was sein Großvater vor dem Sterben gesagt hatte. Er wußte, daß es einfach die Dinge waren, die der sejde auf jeden Fall gesagt hätte, und daß seine Warnung nichts mit Ellen Trowbridge zu tun hatte. Aber der Gedanke quälte ihn, daß Isaac auch im Sterben nicht aufgehört hatte, den Tod und die Christen zu fürchten, obwohl der Tod unvermeidlich war und die Christen ihm nun nichts mehr antun konnten.
Er versuchte, sich klarzumachen, daß der sejde ein alter Mann gewesen war, aus einer Welt, die es nicht mehr gab. Am fünften Abend der Trauerwoche ging er in die Küche, während seine Eltern mit ihren Gästen im Wohnzimmer saßen und Ruthies Erzählungen vom Orangenpflücken in Rehovob zuhörten. Er nahm den Telephonapparat mit und wählte das Fernamt. Es summte in der Leitung, dann war die Vermittlung da. »Ich möchte ein Ferngespräch«, sagte er.
»Wie ist die Nummer des Teilnehmers?«
Die Mutter kam in die Küche. »Ich werd Tee zustellen«, sagte sie.
»Ach, werd ich froh sein, wenn das vorüber ist. Jeden Tag und jeden Abend Leute.«
Er legte den Hörer auf.
Am ersten Abend nach dem Ende der Trauerwoche gingen sie in ein Restaurant. Michael hatte sein Steak noch nicht zur Hälfte gegessen, als er plötzlich keinen Bissen mehr hinunterbrachte. Er entschuldigte sich und verließ den Speisesaal. An der Kasse ließ er drei Dollar in Vierteldollar, Zehner und Fünfer wechseln. Dann ging er in die Telephonzelle. Er setzte sich auf den Hocker und lehnte den Kopf an die Glasscheibe, aber er meldete das Gespräch nicht an.
Tags darauf war er erleichtert, als seine Mutter ihn bat, nicht mehr nach The Sands zurückzukehren. »Es wird für deinen Vater eine Hilfe sein, wenn du da bist«, sagte sie.
Er rief das New Yorker Büro des Hotels an, und man versprach ihm einen Scheck. Er erhielt vierhundertsechsundzwanzig Dollar und neunzehn Cents.
Der Vater ging wieder ins Geschäft, und Michael sah ihn nur selten.
Er unternahm lange Spaziergänge und besuchte kleine Kinos, die alte Filme zeigten. Zu Semesterbeginn inskribierte er an der Universität.
Am dritten Tag fand er in seinem Postfach auf dem Campus einen Brief von Ellen Trowbridge. Er war kurz, freundlich, aber etwas förmlich. Sie fragte nicht, warum er keine Verbindung mit ihr aufgenommen hatte. Sie teilte ihm nur mit, daß sie in Whiteman Hall wohne, falls er ihr an die Schule schreiben wolle, und daß sie den Tod seines Großvaters bedaure. Er verwahrte das Schreiben in seiner Brieftasche.
Zwei Abende später besuchte er eine Studentenvereinigung in der 114th Street. Nach vier Drinks beschloß er, sich der Gruppe nicht anzuschließen und weiter zu Hause zu wohnen; die Kollegen sahen auch wirklich nicht besonders interessant aus. Er verließ die Party vorzeitig und ging ziellos durch die Straßen, fiel dann in eine kleine Bar, bestellte einen doppelten Whisky und dann noch zwei weitere, eingedenk der Flasche des sejde im Bohnenfaß. Dann ging er wieder, ging bis zum Campus. Er umkreiste die Butler-Bibliothek und setzte sich schließlich auf eine Steinbank neben einem plätschernden Brunnen. Bis auf die Bibliothek und das Zeitungswissenschaftliche Institut waren alle Gebäude dunkel. Der schattenhafte Umriß von John Jays Denkmal sah aus wie ein golem. Michael holte den Brief aus der Tasche und riß ihn sorgfältig in die Hälfte, dann in Viertel und schließlich in kleine Stücke, die auf
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