Der Rabbi
blieb auf halbem Weg stehen, stand wie erstarrt im dunklen Stiegenhaus. Einen Augenblick später hörte er ein leises Geräusch, regelmäßig und rhythmisch. Am liebsten wäre er davongelaufen. »Das ist so angenehm... Ah, ist das gut.«
»So?«
»Hmmm. . . Hey -«
Sie lachte kehlig. »Jetzt kratz du mir den Rücken, Max.«
Du alter Dreckskerl, sagte Michael zu sich, du schäbiger Voyeur in mittleren Jahren. Fast stolpernd, eilte er die Stiegen hinunter und stand plötzlich im Wohnzimmer, blinzelnd in der Helle. Sie saßen mit gekreuzten Beinen auf dem Teppich vor dem Kamin. Dessamae hielt den elfenbeinernen chinesischen Rückenkratzer in der Hand.
»Guten Tag, Rabbi«, sagte sie. »Tag, Dad.«
Michael begrüßte sie - aber er konnte ihnen nicht in die Augen sehen. Er ging in die Küche und goß Tee auf. Als er bei der zweiten Tasse war, kamen die beiden ihm nach und leisteten ihm Gesellschaft. Später ging Max weg, um Dessamae nach Hause zu begleiten, und Michael kroch in sein Messingbett und tauchte in den Schlaf wie in ein warmes Bad.
Das Telephon weckte ihn. Er erkannte Dan Bernsteins Stimme. »Was ist los?«
»Nichts. Ich glaube, es ist nichts. Ist Leslie bei Ihnen?« »Nein«, sagte er, plötzlich schmerzhaft wach.
»Sie ist vor ein paar Stunden hier weggegangen.« Michael setzte sich im Bett auf.
»Es hat einen kleinen Auftritt zwischen zwei Patientinnen gegeben. Mrs.
Seraphin hat Mrs. Birnbaum mit so einem kleinen Taschenmesser verletzt. Gott weiß, wo sie es hergenommen hat. Wir versuchen gerade, der Sache auf den Grund zu kommen.«
Dr. Bernstein machte eine Pause und sagte dann hastig: »Leslie hatte mit der ganzen Geschichte überhaupt nichts zu tun. Aber das war der einzige Augenblick, wo sie unbemerkt hinauskommen konnte; es kann zu keiner anderen Zeit gewesen sein.« »Wie geht es Mrs. Birnbaum?«
»Alles in Ordnung. Solche Sachen passieren eben.«
»Warum haben Sie mich nicht sofort angerufen?« fragte Michael. »Man hat jetzt erst bemerkt, daß Leslie nicht da ist. Sie müßte schon dort sein, wenn sie nach Hause gegangen wäre«, bemerkte der Psychiater nachdenklich. »Sogar zu Fuß.«
»Besteht irgendeine Gefahr?«
»Ich glaube nicht«, sagte Dr. Bernstein. »Ich habe Leslie heute gesehen.
Sie ist in keiner Weise suizidgefährdet oder gemeingefährlich. Sie ist wirklich eine recht gesunde Frau. In zwei oder drei Wochen hätten wir sie nach Hause geschickt.«
Michael stöhnte. »Wenn sie jetzt zurückkommt - bedeutet das, daß die Internierung länger dauern wird?«
»Warten wir's ab. Es gibt Patienten, die aus sehr normalen Ursachen ausreißen. Wir müssen erst einmal sehen, was sie vorgehabt hat.«
»Ich werde sie suchen gehen.«
»Es sind ein paar Wärter unterwegs, die nach ihr Ausschau halten. Jetzt könnte sie freilich schon in einem Bus oder in einem Zug sitzen.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Michael. »Warum sollte sie das tun?« »Ich weiß ja nicht, warum sie weggegangen ist«, sagte Dr. Bernstein. »Wir müssen abwarten. Routinegemäß verständigen wir die Polizei.«
»Wie Sie glauben.«
»Ich rufe Sie an, sobald ich etwas weiß«, sagte Dan.
Michael hängte den Hörer ab, zog sich warm an und nahm die große Taschenlampe aus dem Werkzeugschrank.
Rachel und Max waren bereits zu Bett. Michael ging in das Zimmer seines Sohnes. »Max«, sagte er, »wach auf.« Er rüttelte Max an der Schulter, und der Junge schlug die Augen auf. »Ich muß noch weggehen.
Gemeindeangelegenheiten. Paß auf deine Schwester auf.«
Max nickte schlaftrunken.
Die Uhr unten im Vorraum zeigte halb zwölf. An der Tür zog er seine Stiefel an, dann ging er um das Haus herum zum Wagen. Sein Schritt knirschte im frischen Schnee.
Ein leises Geräusch in der Dunkelheit.
»Leslie?« fragte er und knipste die Taschenlampe an. Eine Katze sprang von der Abfalltonne und flüchtete ins Dunkel.
Er ließ den Wagen im Rückwärtsgang aus der Zufahrt rollen und fuhr dann sehr langsam die ganze Strecke vom Haus bis zum Spital ab. Dreimal hielt er an, um seine Scheinwerfer auf Schatten zu richten.
Er begegnete keinem Fußgänger und nur zwei Autos. Vielleicht hat sie jemand im Wagen mitgenommen, dachte er.
Auf dem Krankenhausgelände angekommen, parkte er an einer Stelle, die Aussicht auf den See gewährte, und stapfte dann durch den Schnee hinunter zum Strand und hinaus auf das Eis. Vor zwei Jahren waren zwei College-Studenten nach ihrer Aufnahme in eine Fraternity blindlings quer
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