Der Rabbi
über den See gegangen, waren im dünnen Eis eingebrochen, und einer war ertrunken; der Neffe von Jake Lazarus, erinnerte sich Michael. Aber diesmal schien das Eis dick und tragfähig. Er ließ das Licht seiner Taschenlampe über die weiße Fläche spielen und sah nichts.
Einem plötzlichen Einfall folgend, ging er zum Wagen zurück und fuhr in die Stadt, zum Tempel. Aber Beth Sholom war dunkel und leer.
Er fuhr nach Hause, durchsuchte jeden einzelnen Raum. Im Wohnzimmer hob er den Rückenkratzer auf. Wir sind niemals so jung gewesen, dachte er müde.
Das Telephon läutete nicht.
Der Brief von Columbia lag auf dem Kaminsims. Er erinnerte ihn zwar an das Harvard-Jahrbuch mit Phillipsons Bild, aber trotzdem nahm er ihn zur Hand und las ihn. Dann setzte er sich an seinen Schreibtisch, und bald begann er zu schreiben. So hatte er wenigstens etwas zu tun.
An die Vereinigung der Absolventen von Columbia College, 116th Street und Broadway
New York, New York 10027 Gentlemen,
nachfolgend übermittle ich Ihnen meinen autobiographischen Beitrag zum Gedenkbuch anläßlich der Fünfundzwanzig-Jahr-Feier des Jahrgangs 1941.
Ich kann es kaum glauben, daß fast fünfundzwanzig Jahre vergangen sind, seit wir Morningside Heights verlassen haben. Ich bin Rabbiner. Als solcher habe ich in reformierten Gemeinden in Florida, Arkansas, Kalifornien und Pennsylvania gearbeitet. Jetzt lebe ich in Woodborough, Massachusetts, mit meiner Frau Leslie, geb. Rawlings (Wellesley, 1946) aus Hartford, Connecticut, und unseren Kindern Max (16) und Rachel (8).
Ich sehe dem Zusammentreffen anläßlich unseres fünfundzwanzigjährigen Jubiläums mit freudiger Erwartung entgegen. Die Gegenwart stellt so viele Anforderungen an uns, daß wir nur allzu selten Gelegenheit haben, auf die Vergangenheit zurückzublicken ...
Queens, New York Februar 1939
14
An einem Winternachmittag - Michael absolvierte sein erstes Semester in Columbia - erteilte Dorothy Kind Mr. Lew, ihrem langjährigen Kosmetiker, präzise Aufträge, und er behandelte ihr Haar mit einer faulig riechenden Flüssigkeit, die das Rot in Grau verwandelte. Damit nahm ihr ganzes Leben eine zunächst kaum merkliche Wendung. Vielleicht hatte Abe Kind es allmählich aufgegeben, hinter anderen Frauen her zu sein, nun, da er nicht mehr jung war. Michael zog es vor, anzunehmen, seine Mutter sei endlich mit sich ins reine gekommen. Ein Anzeichen dafür war, daß sie weniger Make-up verwendete: ihr graues Haar umrahmte nun ein Gesicht anstatt einer Maske. Dann lernte sie stricken und versorgte bald die ganze Familie mit Kaschmir-Pullovern und warmen Socken.
Abe und Dorothy gewöhnten sich an, am Freitagabend mit ihrem Sohn zum Gottesdienst zu gehen. Zum erstenmal, seit Michael denken konnte, wurden die Kinds eine Familie im echten Sinn des Wortes.
An einem Sonntagmorgen kroch Michael aus dem Bett, während die Eltern noch schliefen. Im Wohnzimmer fand er seine Schwester, noch in Pyjama und Schlafrock; auf dem Sofa zusammengerollt, aß sie bejgl mit Rahmkäse und löste The New York Times- Rätsel. Mit der Buchbesprechungsseite und dem Rückblick auf die Ereignisse der Woche zog sich Michael in einen Fauteuil zurück. Eine Weile lasen sie schweigend, und Michael hörte, wie Ruthie ihr bejgl kaute. Dann hielt er es nicht länger aus; er putzte die Zähne und holte sich gleichfalls ein bejgl mit Käse. Sie betrachtete ihn, während er saß, ohne sie zu beachten.
Schließlich blickte er auf. Ihre Augen, die denen der Mutter so ähnlich waren, hatten die Intelligenz des Vaters.
»Ich wäre beinahe nicht aus Palästina zurückgekommen«, sagte sie. »Was meinst du damit?« fragte er, aufmerksam werdend.
»Ich habe dort einen Mann kennengelernt. Er wollte mich heiraten, ich wollte es auch, sehr. Hättest du mich vermißt, wenn ich nicht zurückgekommen wäre?«
Er betrachtete sie, weiter sein bejgl essend, und kam zu dem Schluß, daß sie die Wahrheit sagte. Hätte sie sich vor ihm in Szene setzen wollen, dann hätte sie die Angelegenheit dramatischer gestaltet.
»Wenn du's wolltest, warum hast du's nicht getan?«
»Weil ich nichts wert bin. Weil ich ein verwöhnter Mittelstandsfratz aus Queens bin und keine Pionierin.«
Er fragte sie nach dem Palästinenser. Sie stand auf und lief barfuß in ihr Zimmer. Er hörte, wie sie ihre Handtasche öffnete. Sie kam zurück mit einer Amateuraufnahme, die einen jungen Mann mit welligem braunem Haar und krausem braunem Bart zeigte. Er trug nur
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