Der Rabbi
angestrengtem Lächeln. Die Kolonialstil-Möbel konnten, wenn Edna Glück hatte, halten, bis sie zu unterrichten beginnen oder wieder heiraten würde. Zum Fenster hinausblickend, sah Michael den Fluß. Das Haus lag näher dem Broadway als dem Riverside Drive, aber die Stadt fällt zum Hudson steil ab, und die Wohnung befand sich im achten Stock. Die kleinen Lichter der Boote krochen langsam über das Wasser.
Sie tranken Kaffee in der winzigen Kitchenette, und dann lernten sie, ohne sich von ihren Plätzen zu rühren; nur sein Knie berührte ihren Schenkel. Noch keine vierzig Minuten waren vergangen, da war er mit seinem Pensum durch, und auch sie hatte ihr Buch geschlossen. Es war warm in der Küche. Er spürte wieder Ednas Duft, den zarten, aber deutlichen Milchgeruch.
»Jetzt muß ich wohl gehen.«
»Du kannst auch dableiben, wenn du magst, mein Schatz. Heute kannst du dableiben.«
Er rief zu Hause an, während sie die Kaffeetassen wegräumte. Seine Mutter war am Telephon, ihre Stimme klang verschlafen, und er sagte ihr, daß er noch lerne und bei einem Freund übernachten werde. Sie dankte ihm dafür, daß er sie angerufen hatte, so daß sie sich keine Sorgen machen mußte.
Das Schlafzimmer lag neben dem Kinderzimmer, und die Verbindungstür war offen. Einander den Rücken zuwendend, entkleideten sie sich im Schein des Nachtlichts, das nebenan bei dem Baby brannte. Er versuchte seine Zähne zart an ihrer Unterlippe, ganz so, wie er es sich vorgestellt hatte. Im Bett, als er ihr ganz nahe war, machte sich der zarte Milchgeruch sehr kräftig bemerkbar. Er fragte sich, ob sie das Baby noch immer stillte. Aber ihre Brustwarzen waren trockene, harte kleine Knospen. Alles übrige war weich und warm, ohne Schrecken oder Überraschungen, ein sanftes Steigen und Fallen, wie das gleichmäßige Schaukeln einer Wiege. Sie war freundlich. Im Einschlafen spürte er, wie ihre Hand sein Haar streichelte.
Um vier Uhr begann das Baby zu schreien; der dünne, klagende Laut riß sie aus dem Schlaf. Edna zog ihren Arm unter Michaels Kopf hervor, sprang aus dem Bett und lief, die Flasche zu wärmen.
Nun er sie nackt sah, merkte er, daß ihre Hinterbacken groß und etwas hängend waren. Als sie die Flasche aus dem heißen Wasser nahm, fand auch das Geheimnis des Milchgeruchs seine Lösung: sie spritzte einen weißen Tropfen auf die zarte, empfindliche Haut in der Ellbogenbeuge. Zufrieden mit der Temperatur der Milch, steckte sie dem Kleinen den Sauger in den Mund. Das Weinen hörte auf.
Als sie wieder im Bett lag, beugte er sich über sie und küßte sie in die Ellbogenbeuge. Sie war noch feucht und warm von der Milch.
Mit der Zungenspitze fühlte er, wie weich ihre Haut war. Die Milch schmeckte süß. Edna seufzte. Ihre Hand suchte ihn. Diesmal war er seiner selbst sicherer und sie weniger mütterlich. Als sie dann schlief, erhob er sich vorsichtig, kleidete sich im Dunkel an und verließ die Wohnung. Drunten auf der Straße war es finster; Wind kam vom Fluß her. Michael klappte den Mantelkragen hoch und machte sich auf den Weg. Er fühlte sich schwerelos und glücklich, befreit von der Last der Unschuld. »Endlich«, sagte er laut vor sich hin. Ein Junge, der auf seinem mit Paketen vollbeladenen Fahrrad vorbeifuhr, musterte ihn mit hellem, hartem Blick. Selbst um fünf Uhr am Morgen, wenn überall anders die Leute noch schliefen, war Manhattan wach. Menschen waren unterwegs, Taxis und Autos fuhren. Michael ging lange. Allmählich wurde es Tag. Plötzlich erkannte er eines der Häuser, an denen er vorüberging. Es war die kleine schäbige schul mit den von der Untergrundbahn geschüttelten Lampen, die Synagoge des Rabbi Max Gross.
Er trat dicht an das Tor heran und versuchte die fast nicht mehr leserliche Schrift auf der kleinen Holztafel zu entziffern. Im grauen Licht der Morgendämmerung schienen die verblaßten hebräischen Schriftzeichen sich zu drehen und zu krümmen, aber mit einiger Mühe gelang es ihm, sie zu entziffern. Scharaj Schomajim. Pforte des Himmels.
15
Mit vier Jahren, als er noch in der polnischen Stadt Worka lebte, konnte Max Gross Teile des Talmud lesen. Mit sieben, als sich die meisten seiner kleinen Freunde noch mit der Sprache und den Geschichten der Bibel plagten, war er schon tief in die Kompliziertheit des Gesetzes eingedrungen. Sein Vater, der Weinhändler Chaim Gross, war glücklich darüber, daß seine Kaufmannslenden einen ilui gezeugt hatten, ein Talmud-Genie, das Gottes Segen über die
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