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Der Rabbi

Der Rabbi

Titel: Der Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Gordon
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Enttäuschung über die Aufklärung?« fragte Edna Roth.
    Mit flinker rosiger Zunge leckte sie ihre Fingerspitzen ab, die klebrig waren von Blätterteiggebäck.
    »Mein Gott«, sagte er seufzend, »katholisch ist er geworden - das ist alles, was ich über ihn weiß.«
    »Ich hab über deinen Vater nachgedacht«, sagte Chuck Farley aus heiterem Himmel. »Kleine Kapitalisten wie dein Vater sind die größten Feinde der Arbeiterschaft.«
    »Mein Vater muß sich fast jede Woche den Kopf drüber zerbrechen, wie er seine Löhne ausbezahlt«, sagte Michael kurz. Farley kannte Abe Kind nicht. Ein paarmal hatte er nach Kind Foundations gefragt, und Michael hatte Antwort gegeben. »Die Gewerkschaft liegt ihm im Magen. Was hat das mit amerikanischer Philosophie zu tun?«
    Farley zog die Augenbrauen hoch. »Alles«, sagte er. »Siehst du das nicht?« Farley war sehr häßlich, hatte eine große sommersprossige Nase und brandrote Haare, Wimpern und Brauen. Er trug eine achteckige randlose Brille und kleidete sich auffallend, aber nachlässig. Wenn er in der Vorlesung oder im Seminar das Wort ergriff, zog er regelmäßig eine goldene Uhr, groß wie ein Wagenrad, aus der Hosentasche und legte sie vor sich auf den Tisch. Michael trank häufig in der Mensa Kaffee mit ihm, weil Edna Roth immer in seiner Gesellschaft war.
    Edna war ein freundliches dunkelhaariges Mädchen mit einem winzigen Muttermal auf der linken Wange und einer leicht vorspringenden Unterlippe, die Michael davon träumen ließ, seine Zähne daran zu versuchen. Sie neigte ein wenig zur Fülle, kleidete sich einfach und war weder hübsch noch häßlich; ihre braunen Augen zeigten einen Ausdruck von friedlichem Einverständnis mit ihrer Weiblichkeit; sie strömte eine angenehm animalische Wärme aus und einen zarten, verwirrenden Geruch wie nach Milch.
    »Von jetzt an gibt's keine fröhlichen kleinen Saufereien mehr«, sagte sie, obgleich Michael noch nie mit ihnen auf Bartour gegangen war.
    »Kein Schläfchen, keine Spielereien, keine Extravaganzen. Wir müssen noch eine Menge lernen für diese Prüfung.« Sie blinzelte Farley ängstlich an. Die Kurzsichtigkeit gab ihrem Gesicht einen träumerischen, ein wenig entrückten Ausdruck. »Wirst du auch genug Zeit zum Lernen haben, mein Schatz?«
    Er nickte. »In der Eisenbahn.« Er fuhr regelmäßig nach Danbury, Connecticut, wo er mit half, einen Streik in der Hutindustrie zu organisieren. Edna hatte viel Verständnis für seine politische Tätigkeit. Sie war Witwe. Auch Seymour, ihr verstorbener Gatte, war Parteimitglied gewesen. Sie kannte sich aus mit Streiks. Farley berührte ihren üppigen Mund flüchtig mit seinen dünnen Lippen und verabschiedete sich. Michael und Edna tranken ihren Kaffee aus und begaben sich dann an ihre Arbeitsplätze im dritten Stock des Bibliotheksgebäudes; dort rangen sie bis zum Ende der Bibliotheksstunden mit Brownson und Theodore Parker, mit der transzendenten und der kosmischen Philosophie, den Radikalempiristen und den Calvinisten, mit Borden Parker Browne, Thoreau, Melville, Brook Farm, William Torrey Harris ...
    Er rieb sich die brennenden Augen, als sie das Haus verließen. »Es ist einfach zu viel, zu viele Einzelheiten.«
    »Ich weiß. Hast du Lust, noch zu mir zu kommen, mein Schatz? Wir könnten noch ein, zwei Stunden lernen.«
    Sie fuhren mit der Untergrundbahn nach Washington Heights, wo Edna ein Apartment in einem alten Rohziegelbau bewohnte. Sie sperrte auf, und Michael erblickte zu seiner Verwunderung eine junge Negerin, die, neben dem Radio sitzend, ihre Mathematikaufgabe machte; sie packte ihre Hefte sofort zusammen, als die beiden eintraten.
    »Wie geht's ihm, Martha?« fragte Edna. »Alles in Ordnung. Er ist ein süßer Junge.« Das Mädchen packte seine Schulsachen zusammen und verabschiedete sich. Michael folgte Edna in das kleine Schlafzimmer und beugte sich über das Kinderbett. Er war der Meinung gewesen, Seymour hätte ihr nichts hinterlassen als gerade genug Geld, daß sie ins Lehrerseminar zurückkehren konnte. Aber da gab es noch eine andere Hinterlassenschaft.
     
    »Ein hübscher Kerl«, sagte Michael, als sie ins Wohnzimmer zurückkehrten. »Wie alt ist er denn?«
    »Danke. Vierzehn Monate. Er heißt Alan.« Sie ging in die Küche und kochte Kaffee. Michael sah sich im Zimmer um. Auf dem Kaminsims stand ein Bild. Ohne zu fragen wußte er, daß es den verstorbenen Seymour darstellte, einen recht gut aussehenden Mann mit lächerlichem Schnurrbart und

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