Der Raben Speise
morgendliche Mahl nahmen alle Gäste – mochten sie es freiwillig oder unfreiwillig sein – zusammen in der Halle ein. Einzig die Kaufmannsfrau fehlte, die sich durch ihren Mann wegen einer Unpässlichkeit entschuldigen ließ.
»So geht das schon seit einer Weile«, raunte mir unser Gastgeber zu und ergänzte mit einem verstohlenen Lächeln: »Ihr Magen wird die gute Kost nicht gewohnt sein.«
Dass sich die meisten gegen ihren Willen hier befanden und ein Ende des Aufenthalts nicht abzusehen war, trug verständlicherweise nicht zur Steigerung ihrer Laune bei. Der Graf tat jedoch sein Bestes, seine Gäste durch Spiele, Unterhaltungen, vor allem aber durch exquisite und reichhaltige Speisen zu entschädigen. Wahrscheinlich hatte sich das Weib einfach überfressen.
Ich nutzte das Beisammensein, den Bericht des Rotschopfs wiederzugeben, insbesondere dessen Schilderung des Wesens, das den Mord an dem bedauernswerten Dietrich begangen hatte. Dabei musterte ich die Anwesenden aufmerksam, ohne jedoch in ihren Mienen eine Reaktion zu bemerken, die verriet, dass sie mehr von der Sache wussten. Einzig DellaCroce kniff kurz die Augen zusammen und starrte auf ein Zeichen an der Wand, das nur er erkennen konnte. Doch das mochte nichts bedeuten, da ich dieses Verhalten gelegentlich bei ihm beobachtet hatte.
Als unser Gastgeber die Tafel aufhob, schob sich der Italiener unauffällig in meine Nähe. »Ah, mein elender Knöchel!« Mit diesem Aufstöhnen knickte er leicht in den Knien ein und hielt sich an meinem Ärmel fest, um sein Gleichgewicht nicht zu verlieren. Leise flüsterte er dabei, nur für mich wahrnehmbar: »Kommt in einer Stunde in meine Kammer!« Dann bat er vernehmlich um Verzeihung für seine Ungeschicklichkeit, doch leider würde ihm eine alte Verletzung immer wieder zu schaffen machen. Ein schneller Rundblick überzeugte mich, dass niemand sonderlich Notiz von uns nahm.
Ich verbrachte die Zwischenzeit damit, mir zusammen mit den beiden Landsknechten im Hof die Beine zu vertreten. Sie waren mit ihrem gegenwärtigen Los nicht unzufrieden. Zwar verdienten sie kein Geld, hätten sich andererseits aber auch nie eine solche Verpflegung leisten können, wie sie ihnen hier zuteil wurde. Dann lenkte ich das Gespräch auf den dämonischen Mörder aus den Wäldern, in der Hoffnung, sie hätten auf ihren Reisen etwas Ähnliches erlebt und könnten mir so eventuell bei der Lösung des Rätsels behilflich sein. Doch damit konnten sie nicht dienen. Sie waren Männer der Tat, die an nichts Übersinnliches glaubten und für die es nur Gegner aus Fleisch und Blut gab, durch die sie mit ihren Musketen hindurchschießen konnten. Immerhin verging die Zeit rasch, sodass ich mich schließlich beeilen musste, um den Signore DellaCroce nicht warten zu lassen.
Schon nach meinem ersten Klopfen wurde die Tür geöffnet und ich mit einem stummen Wink hineingebeten. Pietro hatte Wein für uns auf dem Tisch bereitgestellt. Seine Frau Beatrice, die nur mir gegenüber ihre Rolle als vermummter Gehilfe aufgegeben hatte, saß mit zurückgeschlagener Kapuze auf dem Bett und nickte mir mit ernstem Gesicht stumm zu.
Als ich Platz genommen hatte, brach es aus dem Italiener förmlich heraus, wobei er Mühe hatte, seine Stimme zu dämpfen. »Er ist es, den sie an unsere Fersen geheftet haben, der Schlimmste von allen. Il ladro del’anima.«
»Ja, der Dieb der Seelen«, übersetzte Beatrice, der die Verzweiflung in den Augen stand. »Ich habe euer Gespräch mitangehört. – Das ist
er
. Vor ihm gibt es kein Entrinnen. Es ist so, als ob wir schon tot wären.«
In den frühen Morgenstunden hatte sich der Wind gelegt, es war wärmer geworden und eine weißgoldene Sonne strahlte zum Fenster herein. Mag sein, dass es daran lag, dass ich so unwirsch auf ihre kryptischen Behauptungen reagierte. »Was faselt ihr da von einem Dieb der Seelen? Ich habe euch für vernünftige Menschen gehalten und jetzt entpuppt ihr euch als solche Spökenkieker und Geisterseher, wie man sie sonst in den einsamen Katen im Moor findet bei halb verblödeten Wurzelfressern. Wie soll jemand den Menschen die Seelen stehlen und wie soll er es überhaupt anstellen, wenn ...«
DellaCroce blieb unverwandt ernst, während er sich zu seiner Frau setzte und den Arm schützend um sie legte. »Ich behaupte nicht, dass er ein Wesen aus der Hölle ist. Aber er
muss
einfach ein Dämon sein. Wie sonst kann es sein, dass ihm nie jemand entkommen ist? Wie sonst kann es sein, dass er das
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