Der Raecher
davon etwas wissen wollen. Das hieß, zurück in die Zelle. Beim Hinausgehen bat Dexter den Staatsanwalt um einen Gefallen.
»Seien Sie kein Spielverderber, und bringen Sie ihn in die Tombs, nicht auf die Insel.«
»Klar, kein Problem. Und Sie sehen zu, dass Sie eine Mütze Schlaf bekommen.«
Mit Tombs waren die beiden Untersuchungsgefängnisse der Manhattaner Justiz gemeint. Sie befanden sich keineswegs unter der Erde, wie der Name vielleicht vermuten lässt, sondern in einem Hochhaus neben den Gerichtsgebäuden und waren für die Verteidiger weitaus bequemer zu erreichen als die Gefängnisinsel Riker’s Island, die weiter nördlich im East River lag. Der Staatsanwalt hatte Dexter zwar geraten, etwas Schlaf nachzuholen, doch der Fall ging vor. Wenn er sich am nächsten Morgen mit Washington Lee beraten wollte, musste er sich noch kundig machen.
Dem geübten Auge erzählte der Stapel Papiere die Geschichte von Washington Lees Entlarvung und Verhaftung. Der Betrug war intern aufgedeckt worden, und die Spur hatte zu Lee geführt. Der Sicherheitschef der Bank, ein ehemaliger Kripobeamter der New Yorker Polizei namens Dan Mitkowski, hatte veranlasst, dass ehemalige Kollegen nach Brooklyn fuhren, um Washington Lee festzunehmen.
Zunächst hatte man ihn in ein Polizeirevier in der Stadtmitte gebracht und dort eingesperrt, doch als immer mehr Gesetzesbrecher die Zellen mit ihrer Anwesenheit beehrten, hatte man ihn zusammen mit den anderen ins Kriminalgerichtsgebäude verlegt und auf die ewig gleiche, aus Fleischwurst- und Käsesandwiches bestehende Kost gesetzt.
Dann begannen die Mühlen der Justiz unbarmherzig zu mahlen. Das Strafregister wies eine kurze Liste kleinerer Delikte auf: Radkappenklau, Automateneinbruch, Ladendiebstahl. Nach Erledigung
der Formalitäten konnte Washington Lee zur Anklage vernommen werden. In diesem Stadium ließ Richter Hasselblad den jungen Mann vorführen.
Auf den ersten Blick wirkte er wie der geborene Versager und Habenichts, der seine Laufbahn mit Schulschwänzen und Kleindiebstählen begann und später als regelmäßiger Gast des Staates New York irgendwo flussaufwärts gesiebte Luft atmete. Wie um alles in der Welt hatte er der East River Bank, die in Bedford-Stuyvesant nicht einmal eine Filiale unterhielt, zehntausend Dollar abluchsen können? Die Akte blieb die Antwort schuldig. Nur eine knapp gehaltene Anklage und eine erboste Bank, die Rache forderte. Schwerer Diebstahl dritten Grades. Sieben Jahre Haft.
Dexter schlief drei Stunden, verabschiedete sich von Amanda Jane, als sie zur Schule ging, gab Angela einen Kuss und kehrte in die Center Street zurück. In einem Vernehmungsraum in den Tombs gelang es ihm, dem schwarzen Jungen seine Geschichte zu entlocken.
In der Schule hatte er auf der ganzen Linie versagt. Seine Zeugnisse waren eine Katastrophe. Sein Lebensweg schien vorgezeichnet. Verwahrlosung, Verbrechen und Gefängnis. Doch dann hatte ein Lehrer, der klüger oder auch nur netter als die anderen gewesen war, dem Nichtsnutz erlaubt, seinen Computer von Hewlett and Packard zu benutzen. (Hier las Dexter gewissermaßen zwischen den Zeilen des Berichts.)
Das war so, als gebe man dem jungen Yehudi Menuhin die Chance, eine Geige in die Hand zu nehmen. Er betrachtete erstaunt die Tastatur, den Bildschirm, und begann dann Musik zu machen. Der Lehrer, offensichtlich ein Computerfreak, denn damals stellten PCs noch die Ausnahme dar, nicht die Regel, war fasziniert. Fünf Jahre war das jetzt her.
Washington Lee fing an zu lernen. Und er begann zu sparen. Wenn er Automaten knackte und ausräumte, gab er das Geld nicht für Zigaretten, Alkohol, Drogen oder Klamotten aus. Er
sparte, bis er sich beim Räumungsverkauf einer in Konkurs gegangenen Firma einen billigen Computer erstehen konnte.
»Und wie haben Sie die East River Bank betrogen?«
»Ich bin in ihren Zentralrechner eingedrungen«, antwortete der Junge.
Im ersten Moment dachte Cal Dexter, Lee habe dazu ein Stemmeisen benutzt, und bat seinen Mandanten um eine Erklärung. Zum ersten Mal kam Leben in den Jungen. Er redete über die einzige Sache, von der er etwas verstand.
»Mann, haben Sie eine Ahnung, wie schwach manche Sicherheitssysteme sind, mit denen die ihre Datenbanken schützen?«
Dexter gestand, dass er sich darüber noch nie Gedanken gemacht hatte. Wie die meisten Laien wusste er, dass Informatiker für Computersysteme so genannte Firewalls entwickelten, die hochsensible Daten vor unerlaubtem Zugriff schützen
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