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Der Raecher

Titel: Der Raecher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederick Forsyth
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bereits der stellvertretende Bezirksstaatsanwalt stand, eine Akte in der Hand.
    »Sie sind müde, Mr. Dexter.«
    »Das sind wir wohl alle, Euer Ehren.«
    »Zweifelsohne, aber wir haben hier noch einen Fall. Ich möchte, dass Sie ihn übernehmen. Nicht morgen, jetzt. Hier ist die Akte. Der junge Mann ist offenbar in ernsten Schwierigkeiten.«
    »Ihr Wunsch ist mir Befehl, Herr Richter.«
    Hasselblads Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen.
    »Das hört man gern.«
    Dexter nahm dem Staatsanwalt die Akte ab, und sie verließen gemeinsam den Gerichtssaal. Auf dem Aktendeckel stand: Das Volk des Staates New York gegen Washington Lee.
    »Wo ist er?«
    »Gleich hier in der Verwahrungszelle«, antwortete der Staatsanwalt.

    Wie er bereits dem Verbrecherfoto, das ihm aus der Akte entgegenblickte, entnommen hatte, handelte es sich bei seinem Mandanten um einen mageren Burschen mit jenem Ausdruck mutloser Verwirrung, den alle Ungebildeten hatten, die irgendwo auf der Welt in die Fänge der Justiz gerieten, halb zerkaut und wieder ausgespuckt wurden. Er wirkte eher verstört als gerissen.
    Der Angeklagte war achtzehn Jahre alt, wohnhaft im tristen Bezirk Bedford Stuyvesant, einem Stadtteil von Brooklyn, der praktisch ein Schwarzengetto ist. Das allein schon weckte Dexters Interesse. Warum wurde er in Manhattan angeklagt? Er vermutete, dass der Junge über den Fluss gekommen und ein Auto gestohlen oder den Besitzer einer dicken Brieftasche überfallen und ausgeraubt hatte.
    Mitnichten. Die Anklage lautete auf Bankbetrug. Hatte er einen Scheck gefälscht, eine gestohlene Kreditkarte benutzen wollen oder es mit dem alten Trick versucht, Geld von einem Scheinkonto abzuheben? Nein.
    Die Anklage blieb merkwürdig vage. In dürren Worten erhob der Bezirksstaatsanwalt Anklage wegen Betrugs in Höhe von mehr als zehntausend Dollar. Das Opfer war die East River Bank, die ihren Sitz mitten in Manhattan hatte, was erklärte, weshalb auf der Insel und nicht in Brooklyn ermittelt wurde. Das Sicherheitspersonal der Bank hatte den Betrug entdeckt, und die Bank wünschte, dass die Sache, den Grundsätzen des Unternehmens entsprechend, mit aller Entschiedenheit verfolgt wurde.
    Dexter lächelte aufmunternd, stellte sich vor, setzte sich und bot eine Zigarette an. Er selbst rauchte nicht, aber neunundneunzig Prozent seiner Mandanten zogen begeistert an den Glimmstängeln. Washington Lee schüttelte den Kopf.
    »Das schadet der Gesundheit, Mann.«
    Am liebsten hätte Dexter entgegnet, dass sieben Jahre Knast der Gesundheit auch nicht gerade zuträglich seien, doch er verkniff
sich die Bemerkung. Lee war, wie er feststellte, nicht nur unansehnlich, sondern nachgerade hässlich. Wie hatte er einer Bank so viel Geld abgeschwatzt? So wie er aussah, ein zappeliges Häuflein Elend, hätte man ihn in der mit italienischem Marmor ausgelegten Vorhalle der renommierten East River Bank kaum geduldet.
    Calvin Dexter brauchte mehr Zeit, als ihm jetzt zur Verfügung stand, um der Akte die nötige Aufmerksamkeit zu widmen. Zunächst galt es, die Formalitäten der Anklageerhebung hinter sich zu bringen und zu klären, ob auch nur im Entferntesten die Möglichkeit einer Freilassung gegen Kaution bestand. Er bezweifelte dies.
    Eine Stunde später trafen sich Dexter und der Staatsanwalt wieder im Gerichtssaal. Washington Lee, der nun völlig verdattert aussah, wurde ordnungsgemäß unter Anklage gestellt.
    »Können wir fortfahren?«, fragte Richter Hasselblad.
    »Mit Erlaubnis des Gerichts möchte ich eine Vertagung beantragen«, antwortete Dexter.
    »Treten Sie nach vorn«, befahl Hasselblad. Als die beiden Parteien vor der Richterbank standen, fragte er: »Wo drückt der Schuh, Mr. Dexter?«
    »Der Fall ist komplizierter, als es zunächst den Anschein hatte, Euer Ehren. Hier geht es nicht um Radkappenklau. Laut Anklage soll ein angesehenes Geldinstitut um über zehntausend Dollar betrogen worden sein. Ich brauche mehr Zeit, um mich in die Akte einzuarbeiten.«
    Der Richter blickte zum Staatsanwalt, der mit einem Achselzucken sein Einverständnis signalisierte.
    »Aber heute noch«, sagte der Richter.
    »Ich möchte eine Kaution beantragen«, sagte Dexter.
    »Einspruch, Euer Ehren«, warf der Staatsanwalt ein.
    »Ich setze die Kaution auf zehntausend Dollar fest«, entschied Richter Hasselblad, »die in der Anklage erwähnte Schadenssumme.«

    Der Betrag war viel zu hoch, das wussten alle. Washington Lee besaß nicht mal zehn Dollar, und kein Bürge würde

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