Der Raecher
gefiel ihnen nicht.«
»Wie viel haben Sie gekriegt?«
»Drei Jahre ›Umerziehung‹, das übliche Strafmaß. Danach drei Jahre lang tägliche Meldepflicht. Ich kam in ein Lager in der Provinz Hatay, etwa sechzig Kilometer von Hanoi entfernt. Sie schicken einen immer weit weg von zu Hause, das hält von Fluchtversuchen ab.«
»Sie sind trotzdem geflohen?«
»Mithilfe meiner Frau. Sie ist tatsächlich Krankenschwester, nicht nur Fälscherin. Und ich war in den wenigen Jahren, in denen Frieden herrschte, wirklich Schulleiter. Wir lernten uns im Lager kennen. Sie arbeitete im Krankenrevier. Ich bekam Abszesse an beiden Beinen. Wir kamen ins Gespräch. Wir verliebten uns. Man stelle sich vor, in unserem Alter! Sie schmuggelte
mich hinaus. Sie hatte etwas Goldschmuck versteckt, der nicht konfisziert worden war. Damit haben wir das Ticket für den Frachter bezahlt. So, jetzt wissen Sie alles.«
»Und das soll ich Ihnen nun glauben?«, fragte Dexter.
»Sie sprechen unsere Sprache. Waren Sie dort?«
»Ja.«
»Haben Sie gekämpft?«
»Ja.«
»Dann sage ich Ihnen von Soldat zu Soldat: Man muss wissen, wann man verloren hat. Sie sehen einen Mann vor sich, der auf der ganzen Linie verloren hat. Gehen wir?«
»Wohin denn?«
»Zu den Leuten von der Einwanderungsbehörde natürlich. Sie müssen uns anzeigen.«
Cal Dexter leerte seine Kaffeetasse aus und erhob sich. Major Nguyen Van Tran wollte ebenfalls aufstehen, doch Dexter drückte ihn auf den Stuhl zurück.
»Zwei Dinge noch, Major. Der Krieg ist vorbei. Das alles ist in einer anderen Zeit und in einer anderen Welt passiert. Versuchen Sie, den Rest Ihres Lebens zu genießen.«
Der Vietnamese stand wie unter Schock. Er nickte stumm. Dexter wandte sich zum Gehen. Nach ein paar Schritten drehte er sich noch einmal um.
»Ach ja, noch was. Die Schale mit heißem Nussöl, die Sie nach mir geworfen haben, hat wirklich wehgetan.«
Man schrieb den 22. November 1978.
10
Der Computerfreak
1 985 hatte Cal Dexter bei Honeyman Fleischers gekündigt, allerdings nicht um eine Stelle anzunehmen, die es ihm ermöglichte, sich das hübsche Haus in Westchester zu kaufen. Er wechselte ins Büro des Pflichtverteidigers und wurde das, was man in New York einen Armenanwalt nennt. Damit war kein Staat und schon gar kein Vermögen zu machen, aber der Job erfüllte ihn mit einer Befriedigung, die er, wie er wusste, im Aktien- oder Steuerrecht nie hätte finden können.
Angela hatte seine Entscheidung positiver aufgenommen als erwartet. Im Grunde war es ihr egal. Die Marozzis hingen wie Kletten aneinander und waren waschechte Bronx-Leute. Amanda Jane ging auf eine Schule, die ihr gefiel, und hatte viele Freundinnen. Ein lukrativerer und angesehenerer Job sowie ein Umzug in eine bessere Gegend waren nicht gefragt.
An seinem neuen Arbeitsplatz musste er unzählige Überstunden leisten und Menschen verteidigen, die durch ein Loch im Netz des amerikanischen Traums gefallen waren, sich also keinen Rechtsbeistand leisten konnten.
Für Cal Dexter war der Arme und Ungebildete nicht zwangsläufig auch schuldig. Er freute sich jedes Mal wie ein Schneekönig, wenn ein verwirrter und dankbarer Mandant, der zu Unrecht eines Verbrechens beschuldigt worden war, als freier Mann den Gerichtssaal verließ, egal, was er sonst auf dem Kerbholz haben mochte. Es war eine heiße Sommernacht im Jahr 1988, als er Washington Lee kennen lernte.
Allein auf der Insel Manhattan werden jährlich über hundertzehntausend
Kriminalfälle bearbeitet, die Zivilprozesse nicht mitgerechnet. Der Justizapparat ist permanent überlastet und steht immer kurz vor dem Kollaps, doch irgendwie scheint er zu überleben. In jenen Jahren war das nur möglich, weil in dem großen Granitbau in der Central Street Nr. 100 vierundzwanzig Stunden am Tag wie am Fließband verhandelt wurde.
Wie ein gutes Varieté war das Kriminalgerichtsgebäude »rund um die Uhr geöffnet.« Es wäre wohl übertrieben zu behaupten, dass sich hier »das richtige Leben abspielte«, doch mit Sicherheit gaben sich an diesem Ort die unteren Schichten der Manhattaner Gesellschaft ein Stelldichein.
In jener Nacht im Juli 1988 hatte Dexter Bereitschaftsdienst und konnte jederzeit von einem übereifrigen Richter einem Mandaten zugewiesen werden. Es war zwei Uhr morgens, und er wollte sich gerade fortstehlen, als ihn eine Stimme in den Gerichtssaal AR2A rief. Er seufzte. Mit Richter Hasselblad legte man sich besser nicht an.
Er trat an die Richterbank, wo
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