Der Ramses-Code
Polyhistor, gratulierte und bat um eines der Druckexemplare der künftigen Broschüre für sich und seinen Bruder Wilhelm.
Jean-François blieb umringt von seinen Freunden. Schließlich kam die Reihe an Jacques-Joseph, er drückte dem Bruder die Hand, mit einer verstohlenen Träne im Augenwinkel; dann umarmte er ihn und flüsterte ihm ins Ohr: »Verzeih mir, daß ich allzu Kleinmütiger für kurze Zeit den Glauben an dich verlor.«
»Ohne dich«, raunte Jean-François zurück, »hätte ich es nie vollbracht.«
Plötzlich stand auch der Herzog Blacas d’Aulps vor dem Entzifferer. Für einen Moment trat Stille ein, und alle vernahmen seine Worte: »Monsieur, ich werde Seiner Majestät berichten, was Sie für Frankreich geleistet haben, und ich für meinen Teil bin der Ansicht, daß die Vergangenheit damit begraben sein sollte.« Der hohe Herr neigte für eine Sekunde den Kopf und entfernte sich mit raschen, energischen Schritten.
Das war ein Zeichen zum allgemeinen Aufbruch. Die Zuhörer strömten zur Tür, unter ihnen die verschleierte schwarze Dame. Jean-François bahnte sich endlich einen Weg durch den Kreis seiner Bewunderer, aber er stieß auf Edmé Jomard, der sich zu einem stummen Händedruck durchrang, bevor er eilends den Saal verließ. Quatremère konnte sich nicht einmal zu dieser kleinen anerkennenden Geste entschließen. Auch Thomas Young, der geschlagene Mann des Abends, verabschiedete sich wort- und grußlos. Baron Ravenglass, eine tiefe Zornesfalte senkrecht über der Nasenwurzel, folgte ihm und sagte auf dem Gang eisig: »Professor, Sie sind mir eine Erklärung schuldig!«
»Bin ich das?« fragte Young und tat gleichmütig, aber sein hochroter Kopf strafte ihn Lügen. »Er brüstet sich mit meiner Erkenntnis! Ohne mich wäre Champollion nie auf die richtige Fährte gekommen.«
»Ach was, Fährte!« raunzte der Baron. »Er kann die Hieroglyphen lesen, Sie können es nicht, das ist alles! Ich habe meine tausend Pfund in den Wind gesät. Ein Franzose hat das Rennen gemacht! Wir gewinnen den Kampf um Ägypten und seine Altertümer, aber ein französischer Hochverräter und Napoleon-Anhänger entziffert die Hieroglyphen! Ein Skandal! Wozu habe ich die vielen Funde nach London bringen lassen? Der Kleopatra-Obelisk mitsamt seiner Inschrift stand monatelang zu Ihrer Verfügung, aber Champollion liest den Namen der Königin als erster. Ich lasse ein Königsgrab in London unter falschem Namen ausstellen! Was für eine Schande! Wir haben verloren!«
»Sie können Ihr Geld gerne zurückbekommen, Baron«, parierte Young den Zornesausbruch des Alten, »obwohl ich mich entsinne, daß Ihre Wettbedingung lautete, ich müsse nur eine Hieroglyphe identifizieren, und ich habe eine Reihe dieser verfluchten Zeichen entziffert. Das hat man nun davon, daß man sich breitschlagen läßt. Dieser verrückte Franzose hat selbst eingestanden, daß er fünfzehn Jahre benötigte. Ich habe mir lediglich ein paar Monate Zeit genommen, aber auch das war schon zuviel. Ich habe genug davon! Ich bin Physiker!«
Während sich die beiden Engländer im Davongehen heillos zerstritten, leerte sich der Saal. Nur Jacques-Joseph, Belzoni und Dacier standen noch an der Tür, und wie man ihrem Gespräch entnehmen konnte, beratschlagten sie, inwieweit die Entdeckungen des heutigen Abends noch in die geplante große Ägyptenausstellung einfließen sollten. Jean-François hatte die verschleierte Dame nicht mehr erreicht. Langsam ordnete er seine Papiere und wischte die Tafel ab, tief in Gedanken versunken. Es war vollbracht! Zwar stand die Hauptarbeit noch bevor, es gab Tausende von Texten zu lesen, aber das Tor war aufgestoßen, der Riegel geöffnet, der Weg gebahnt. Ägypten hatte an diesem Abend sein Schweigengebrochen, er hatte es gebrochen. Sein Traumland lag nun vor ihm wie eine willige Geliebte. Sie hatte sich sehr lange geziert und viele Verehrer spröde abgewiesen, manche hatten darüber den Verstand verloren. Er würde in die akademische Gesellschaft der Hauptstadt zurückkehren als ein Triumphator, er würde berühmt werden und vielleicht sogar eines Tages nach Ägypten reisen können. Er und sein Bruder, der Treue, Unermüdliche, ohne den er ein Nichts wäre, sie würden beide nicht länger als Geächtete leben, vielleicht Professuren erhalten, Geld verdienen und nach den Jahren der Entbehrung ein normales Leben führen können. Warum um alles in der Welt war er nicht erleichtert? Was fehlte noch zu seinem Glück?
»Monsieur
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