Der Ramses-Code
gezielten Studien beginnen.«
»Mit fünf Jahren!«
»Warum nicht. Er braucht Unterricht, damit sein Talent in feste Bahnen gelenkt wird. Ich bin zu beschäftigt, um das allein zu leisten, denn er lernt rasend schnell. Er liest sogar schon Homer und Vergil …« Jacques-Joseph wollte noch hinzufügen »im Original«, doch der Vater hatte sich von ihm abgewendet. Er eilte zur Tür, rief durch den Flur »Jean-François, komm sofort zu mir!«, griff sich Homers »Ilias« vom Bücherbord und wartete auf das Erscheinen seines Jüngsten. Als der, etwas erschrocken ob des barschen Tones, das Zimmer betrat, hielt ihm sein Vater das Buch vor die Nase und schlug eine beliebige Seite auf. »Dein Bruder behauptet, du kannst auch das lesen. Na los«, kommandierte er, »lies vor!«
Der Junge blickte abwechselnd auf das Buch und das vor Aufregung dunkelrot angelaufene Gesicht seines Vaters. Der Text war zweisprachig gedruckt, links das griechische Original, rechts die französische Übersetzung. Jean-François holte tief Luft und las, sehr langsam, aber mit klarer Artikulation: »Thebai, Aigyptos Stadt, wo reich sind die Häuser an Schätzen, hundert hat sie der Tor, und es ziehn, zweihundert aus jedem, rüstige Männer zum Streit mit Rossen daher und Geschirren.«
Jacques Champollion verstand kein Wort, denn sein Sohn rezitierte den Originaltext (wodurch dem Vater übrigens verborgen blieb, daß er blindlings die Stelle in Homers Epos aufgeschlagen hatte, wo von Ägypten die Rede ist).
»Was war das?« fragte Jacques Champollion.
Jacques-Joseph lachte. »Das war Orginaltext. Ich sage doch, er muß studieren.«
Der Junge sprach altgriechisch!
Fassungslos starrte der Vater auf seinen Jüngsten, der den Blick aus seinen dunklen Augen mit der befremdlich gelbstichigen Hornhaut erwiderte und dabei strahlte, als wolle er fragen: Siehst du, was ich alles kann? Warum lobst du mich nicht? Aber die Fähigkeiten des Fünfjährigen waren zuviel für den schlichten Verstand des Buchhändlers. »Es ist gut«, murmelte er, »du kannst auf dein Zimmer gehen.« Dann legte Jacques Champollion das Buch aus der Hand, stieg in den Keller und holte sich Wein.
Damals bemächtigte sich seiner die fixe Idee, der alte Zauberer Jacqou habe das Kind in die Familie hineingehext. Seltsamerweise erinnerte sich der Buchhändler auch in diesem Moment nicht an dessen geheimnisvolle Prophezeiung. Jedenfalls war er außerstande, Jean-François’ Begabung als vom Himmel verliehen zu erkennen. Ihm erschien sie wie ein Werk des Leibhaftigen.
Das also war der Grund, warum Jacques Champollion dem Wein so übermäßig zusprach.
Dem heranwachsenden Wunderknaben blieb die väterliche Aversion verborgen, weil dieser sie gleichsam täglich hinunterspülte. Der Vater war etwas wunderlich, meistens leicht beschwipst, und die Mutter grämte sich darüber – so lagen die familiären Dinge nun einmal.
An jenem Abend, da sein teuflisch begabter Jüngster und sein Ältester, der anerkannte städtische Verwaltungsexperte, über die Bedeutung des zu Rosette entdeckten Dreisprachensteins debattierten, saß das Familienoberhaupt also am Tisch, nahm tiefe Züge aus dem Weinglas und sah seine Söhne sich angeregt unterhalten, ohne daß er ihre Wortewahrnahm. Die Frau und die älteren Töchter trugen das Abendessen auf. Es gab Gemüsesuppe, Rinderbraten, Käse, Brot und Obst – die Champollions waren keine armen Leute. Jeanne entstammte einer Kaufmannsfamilie und hatte eine gute Mitgift in die Ehe gebracht, von der das Paar unter anderem das Haus, ein großes Stück der umliegenden Obstgärten und das Interieur des Geschäftes gekauft hatte. Die Mutter sprach das Tischgebet.
Der Grad der jeweiligen Andacht fiel bei solchen Gelegenheiten verschieden aus. Jacques-Joseph war ein Kind der Aufklärung und überzeugter Atheist. Jean-François las zwar leidenschaftlich gern in der Bibel, aber er tat dies einzig seines glühenden Interesses an alten Völkern wegen; hätte man ihn gefragt, ob er an Gott glaube, hätte der Knabe wohl in seiner altklugen Art geantwortet, er bedürfe dieser Hypothese nicht. Der Vater war eher abergläubisch als gläubig, aber Jeanne Champollion bestand auf den kleinen alltäglichen Ritualen, und zwar völlig unbeeindruckt von den politischen Zeitläuften. Daß die Revolution Gott per Dekret abgeschafft hatte, nahm sie ebensowenig zur Kenntnis wie das Gerede der Nachbarn über Gottes angebliche Rache an den jakobinischen Frevlern, als es anno 1794 nun
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