Der Raritätenladen
anwendbar.
›In Büchern, Arbeit, frohem Spiel‹
hat nur auf diese Bezug, und unter Arbeit sind hier Samtmalerei, feine Handarbeiten und Stickerei verstanden. In solchen
Fällen aber«, fuhr sie fort, mit ihrem Sonnenschirm auf Nell deutend, »und überhaupt bei allen Kindern armer Leute sollte die Lesart so lauten:
›In Arbeit, Arbeit, Arbeit viel
Laß hingehn meiner Jugend Stunden,
Damit an jedes Tages Ziel
Mein Wirken löblich werd erfunden.‹«
Ein dumpfes Beifallsgemurmel ertönte nicht nur aus dem Munde der zwei Lehrerinnen, sondern erhob sich auch unter allen Zöglingen, die ganz überrascht waren, Miß Monflathers so ausgezeichnet improvisieren zu hören; denn obgleich sie längst in dem Rufe einer guten Politikerin stand, so hatte sie sich doch nie zuvor als Originaldichterin gezeigt. Zufällig entdeckte jemand in diesem Moment, daß Nell weinte, und aller Augen wandten sich ihr aufs neue zu.
Sie hatte wirklich Tränen in den Augen, und als sie ihr Taschentuch herauszog, um sie zu trocknen, entfiel es zufällig ihren Händen. Ehe sie sich aber bücken konnte, um es wieder aufzunehmen, sprang ein Mädchen von ungefähr fünfzehn oder sechzehn Jahren, das etwas seitwärts von den übrigen gestanden hatte, als gehörte es nicht zu ihnen, hinzu und gab ihr das Tuch in die Hand. Sie wollte sich eben wieder schüchtern zurückziehen, als die Vorsteherin der Anstalt sie stehenbleiben hieß.
»Ich weiß, das hat Miß Edwards getan«, sagte Miß Monflathers in bestimmtem Tone, »gewiß, niemand anders war es als Miß Edwards!«
Es war Miß Edwards, und jedermann sagte, es war Miß Edwards, und Miß Edwards selbst stellte es auch nicht in Abrede.
»Ist es nicht höchst merkwürdig, Miß Edwards«, fuhr Miß
Monflathers fort, indem sie ihren Sonnenschirm zumachte, um die Verbrecherin desto strenger ins Auge fassen zu können, »daß Sie eine solche Vorliebe für die niedere Klasse sich bewahren, die Sie immer auf ihre Seite hinüberzieht? Oder vielmehr, ist es nicht eine ganz ungewöhnliche Tatsache, daß alles, was ich sage und tue, nicht imstande ist, Ihnen die Neigungen abzugewöhnen, die Ihnen Ihre ursprüngliche Stellung im Leben unglücklicherweise zur zweiten Natur gemacht hat, Sie ganz niedrig gesinntes Mädchen?«
»Ich habe wirklich nichts Böses beabsichtigt, Ma'am«, entgegnete eine sanfte Stimme, »ich tat es ganz impulsiv.«
»Impulsiv?« wiederholte Miß Monflathers verächtlich. »Es nimmt mich wunder, daß Sie es wagen, mir gegenüber von Impulsen zu sprechen« – beide Lehrerinnen nickten beifällig – »ich bin ganz erstaunt« – beide Lehrerinnen waren es gleichfalls – »ich glaube, es ist ein Impuls, der Sie veranlaßt, für jede gemeine und niedrige Person, die Ihnen in den Weg kommt, Partei zu nehmen« – die beiden Lehrerinnen vermuteten es auch.
»Ich muß Ihnen aber kundtun, Miß Edwards«, fuhr die Vorsteherin mit erhöhter Strenge fort, »daß es Ihnen nicht gestattet ist und – wäre es auch nur um des Beispiels und um der Ehre der Anstalt willen – nicht gestattet werden darf, daher auch nicht gestattet werden soll, Ihre Vorgesetzten so gröblich zu verhöhnen. Wenn Sie keinen Grund haben, einen gebührenden Stolz gegen Wachsfigurenkabinettskinder zu empfinden, so sind doch junge Damen hier, bei denen dies der Fall ist, und Sie müssen sich nach diesen jungen Damen richten oder das Institut verlassen, Miß Edwards.«
Miß Edwards war ein armes, mutterloses Mädchen und befand sich in der Anstalt, in der sie für nichts Unterricht erhielt, für nichts andere lehrte, was sie gelernt hatte, für nichts ver
köstigt und beherbergt wurde und in den Augen aller Insassen des Hauses für unendlich weniger galt als nichts. Die Dienstboten fühlten ihre Überlegenheit, denn sie wurden besser behandelt, konnten nach Gutdünken kommen und gehen und begegneten in ihrer Stellung weit größerer Achtung. Die Lehrerinnen standen ohnehin unendlich höher, denn sie hatten seinerzeit ihr Schulgeld bezahlt und wurden jetzt selbst honoriert. Die Zöglinge kümmerten sich wenig um eine Gefährtin, die keine großartigen Geschichten von daheim zu erzählen hatte, die von keinen Freunden besucht wurde, die mit Postpferden ankamen und von der Vorsteherin mit aller Ergebenheit und einem mit Wein und Kuchen besetzten Tisch empfangen wurden, der keine unterwürfige Dienerin zu Gebote stand, die sie zur Zeit der Ferien nach Hause begleitete, die nichts Elegantes besaß, über das
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