Der Raritätenladen
in der Schule? Nichts ließ sich verlauten. Eines Abends aber, als Nell von einem einsamen Spaziergange zurückkehrte, kam sie zufällig an dem Wirtshause vorüber, bei dem die Postkutschen haltmachten, gerade in dem Augenblick, als eine heranfuhr; und da war das schöne Mädchen, dessen sie sich so gut erinnerte, und drängte sich vorwärts, um ein kleines Kind zu umarmen, dem man von dem Kutschendache herunterhalf.
Nun, das war ihre kleine Schwester, viel jünger als Nell, die sie – wie später erzählt wurde – seit fünf Jahren nicht gesehen und für die sie während der ganzen Zeit eifrig gespart hatte, um sie auf ein paar Tage zu sich kommen zu lassen. Der armen Nell wollte das Herz brechen, als sie dieses Wiedersehen mit ansah. Sie traten aus der Gruppe von Leuten, die sich um die Kutsche versammelt hatten, fielen einander um den Hals und weinten und schluchzten vor Freude. Ihre schlichte, einfache Kleidung, die Entfernung, aus der das Kind allein gekommen war, ihre freudige Aufregung und ihre strömenden Tränen erzählten an sich schon ihre ganze Geschichte.
Nach einer Weile wurden sie ruhiger und gingen fort, nicht Hand in Hand, sondern fest umschlungen.
»Bist du auch gewiß glücklich, Schwester?« fragte das Kind, als sie an der Stelle, an der Nell stand, vorbeigingen.
»Jetzt bin ich ganz glücklich«, antwortete sie.
»Aber immer?« fuhr das Kind fort. »Ach, Schwester, warum wendest du dein Gesicht ab?«
Nell konnte nicht umhin, ihnen in einiger Entfernung zu folgen. Sie gingen in die Wohnung einer alten Krankenwärterin, bei der die ältere Schwester ein Schlafkämmerchen für das Kind gemietet hatte.
»Ich werde jeden Tag in aller Frühe zu dir kommen«, sagte sie, »und dann können wir den ganzen Tag beisammensein.«
»Aber warum nicht auch des Nachts? Liebe Schwester, würde man dir denn deshalb böse werden?«
Warum mochten wohl an jenem Abend die Augen der kleinen Nell ebenso tränenschwer sein wie die der beiden Schwestern? Warum war sie so dankbar für dieses Wiedersehen, und warum fühlte sie sich so schmerzlich bewegt bei dem Gedanken, daß sie sich so bald wieder trennen müßten? Wir wollen nicht glauben, daß irgendeine selbstsüchtige Beziehung zu ihren eigenen Prüfungen, so unwillkürlich sie sich auch hätte einschleichen können, diese Teilnahme erweckte, sondern lieber Gott danken, daß die unschuldigen Freuden anderer einen starken Eindruck auf uns üben können und daß wir trotz unseres sündigen Wesens doch einen Quell reiner Empfindung besitzen, der dem Himmel wohlgefällig sein muß!
Im heitern Morgenglanz, noch öfter aber im sanften Abendlicht folgte Nell den beiden auf ihren Spaziergängen und Streifzügen, aber immer in einiger Entfernung, denn die Rücksicht auf das kurze und glückliche Beisammensein der Schwestern hielt sie davon ab, näher zu treten und ein Wort des Dankes
zu sagen, so gern sie es auch getan hätte; sie blieb stehen, wenn sie stehenblieben, setzte sich auf das Gras, wenn sie sich niederließen, stand auf, wenn sie weitergingen, und empfand ihre Nähe als Gesellschaft und große Freude. Abends gingen sie gewöhnlich am Flußufer spazieren. Dort befand sich auch jedesmal Nell, ohne daß sie sie sahen, an sie dachten oder sie beachteten; es war ihr aber, als ob sie ihre Freundinnen wären, als stände sie mit ihnen in einem innigen und vertraulichen Verkehr und als wäre ihre Last leichter zu ertragen, als ob sie ihren Kummer teilten und sich gegenseitig trösteten. Es war vielleicht nur ein Trugbild der Phantasie, der kindlichen Phantasie eines jungen und einsamen Wesens; aber Abend für Abend verging und immer noch schlenderten die Schwestern über dieselben Wege, immer noch folgte ihnen die Kleine mit milder gestimmtem und erleichtertem Herzen.
Sie erschrak nicht wenig, als sie eines Abends nach Hause zurückkehrte und erfuhr, Madame Jarley habe eine Ankündigung vorbereiten lassen des Inhalts, daß die staunenerregende Sammlung nur noch einen Tag in ihrem bisherigen Lokal bleiben werde. Dieser Drohung gemäß – denn alle Ankündigungen, welche irgendwie mit einer öffentlichen Belustigung in Verbindung stehen, sind bekanntermaßen pünktlich und unwiderruflich – hatte man also für den nächsten Tag den Schluß der staunenerregenden Wachsfigurensammlung zu gewärtigen.
»Wir werden also gleich von hier wegziehen, Madame?« fragte Nell.
»Sieh her, Kind«, entgegnete Madame Jarley, »dies wird dich belehren!«
Und mit diesen
Weitere Kostenlose Bücher