Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Raritätenladen

Der Raritätenladen

Titel: Der Raritätenladen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
Vom Netzwerk:
wachend fände, sagen, sie fürchte sich und könne nicht schlafen und sei hergekommen, um nachzusehen, ob er noch Licht habe. Als sie in das Gemach blickte, bemerkte sie, daß er ruhig auf seinem Bette lag, und so faßte sie denn Mut einzutreten.
    Er schlief fest: keine Leidenschaft in seinem Gesichte, weder Habsucht noch Verlangen oder wilde Gier; ganz ruhig, sanft und voll stillen Friedens lag er da. Dies war nicht der Spieler, nicht der Schatten aus ihrem Kämmerchen; das war nicht einmal der abgehärmte und kummergebeugte Mann, dessen Antlitz sie oft im Morgengrauen geschaut hatte, dieser hier war ihr lieber alter Freund, ihr schuldloser Reisegefährte, ihr guter, freundlicher Großvater.
    Sie fürchtete sich nicht, als sie seine schlummernden Züge betrachtete, aber ein tiefer, schwerer Kummer lag auf ihrer Seele und fand Erleichterung in heißen Tränen.
    »Gott schütze ihn!« sagte Nell, indem sie sich leise über ihn beugte und sanft seine Wange küßte. »Ich sehe jetzt nur zu gut, daß man uns trennen würde, wenn man uns auffände, und daß man ihn ausschlösse von dem Licht der Sonne und des Himmels. Er hat niemand als mich, um ihm zu helfen. Gott schütze uns beide!«
    Sie zündete ihre Kerze an, zog sich schweigend, wie sie gekommen war, wieder in ihr Kämmerchen zurück und blieb dort den Rest dieser langen, langen, unglücklichen Nacht auf ihrem Lager sitzen.
    Endlich erblaßte ihr schwaches Kerzenlicht in dem auftau
chenden Morgen, und sie schlief ein. Bald jedoch wurde sie wieder von dem Mädchen geweckt, das sie zu Bett begleitet hatte; und sobald sie angekleidet war, schickte sie sich an, zu ihrem Großvater hinunterzugehen. Aber zuerst durchsuchte sie ihre Tasche und fand, daß ihr ganzes Geld fort und auch nicht ein Sechspencestück zurückgeblieben war.
    Der alte Mann war schon zum Aufbruch bereit, und in wenigen Augenblicken befanden sie sich auf dem Wege. Es kam Nell vor, als vermeide der Großvater ihr Auge und als scheine er zu erwarten, daß sie ihm etwas von ihrem Verluste sage. Sie fühlte, daß sie dies tun mußte, sonst hätte er die Wahrheit vielleicht geahnt.
    »Großvater«, sagte sie bebend, nachdem sie etwa eine Meile schweigend gegangen waren, »glauben Sie, daß in jenem Hause dort ehrliche Leute sind?«
    »Warum?« entgegnete der alte Mann zitternd. »Warum sollte ich sie nicht für ehrlich halten? Sie haben ehrlich gespielt.«
    »Ich will Ihnen sagen, warum ich frage«, versetzte Nell. »Mir ist gestern abend Geld genommen worden, wie ich bestimmt weiß, aus meinem Schlafzimmer. Wenn es nicht jemand im Scherz weggenommen hat, nur im Scherz, lieber Großvater, worüber ich natürlich herzlich lachen würde, wenn ich es wüßte …«
    »Wer wird Geld im Scherz wegnehmen?« erwiderte der alte Mann heftig. »Wer überhaupt Geld nimmt, behält es. Da kann von Scherz keine Rede sein.«
    »Dann ist es aus meinem Zimmer gestohlen worden, lieber Großvater«, sagte Nell, deren letzte Hoffnung durch seine Antwort zerstört wurde.
    »Aber hast du nicht noch mehr?« fragte der alte Mann; »nirgends noch etwas? Wurde alles genommen, jeder Heller, ist gar nichts mehr übriggeblieben?«
    »Nichts«, versetzte das Kind.
    »Wir müssen mehr kriegen«, sagte der alte Mann, »wir müssen es erwerben, Nell, ersparen, zusammenscharren, müssen es herschaffen, sei es auf was immer für eine Weise. Nimm dir diesen Verlust nicht zu Herzen! Sage niemand etwas davon, vielleicht gewinnen wir das Geld zurück, bekommen es vielleicht wieder! Frage nicht, wie! Wir kriegen es vielleicht wieder und noch viel mehr dazu; aber du mußt es niemand sagen, damit uns keine Ungelegenheit daraus erwächst. Man hat es dir also aus deiner Kammer genommen, als du schliefst?« fuhr er im Tone des Mitleids fort, der sehr gegen die geheimnisvolle Verschmitztheit abstach, mit der er bisher gesprochen hatte. »Arme Nell, arme kleine Nell!«
    Das Kind ließ das Köpfchen hängen und weinte. Der mitleidige Ton, in dem er sprach, war gewiß aufrichtig, daran zweifelte Nell nicht im geringsten; und daß alles um ihretwillen getan worden war, bedrückte sie wohl am meisten.
    »Erwähne es niemand gegenüber, sage es nur mir«, sprach der alte Mann. »Nein, nicht einmal mir«, fügte er hastig hinzu, »denn es führt ja doch zu nichts. Alle bisherigen Verluste sind keine Träne aus deinen Augen wert, mein Herz. Warum sollten sie's auch sein, da sie sich wieder zurückgewinnen lassen?«
    »Laß doch die Verluste!« sagte das Kind

Weitere Kostenlose Bücher