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Der Raritätenladen

Der Raritätenladen

Titel: Der Raritätenladen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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Straßen rechter Hand sie einschlagen und welche linker Hand sie vermeiden müßte.
    So fiel es Nell nicht schwer, Miß Monflathers In- und Externat zu finden. Es war ein großes Haus mit einer hohen Mauer und hatte eine große Gartentür mit einer Messingplatte und einem kleinen Gitter, durch das Miß Monflathers' Zofe jeden Besucher beaugenscheinigte; denn nichts Männliches – nicht einmal der Milchmann – durfte dieses Tor passieren. Selbst der Steuereinnehmer, ein stämmiger Mann mit einer Brille und einem breitkrempigen Hut, mußte die Steuern durch das Gitter in Empfang nehmen.
    Miß Monflathers' Tor trotzte dem ganzen Männergeschlechte hartnäckiger als Tore von Diamant und Erz. Selbst der Fleischer respektierte es als ein unverletzliches Geheimnis und hörte auf zu pfeifen, wenn er die Klingel zog.
    Als sich Nell dieser ehrfurchtgebietenden Tür näherte, drehte sie sich langsam in ihren knarrenden Angeln, und aus dem heiligen Hain kam eine lange Reihe von jungen Damen, je zwei und zwei, die alle offene Bücher und zum Teil auch aufgespannte Sonnenschirme in den Händen hatten. Den Schluß dieser prunkvollen Prozession bildete Miß Monflathers, die einen lilaseidenen Sonnenschirm trug und als Adjutantinnen zwei Lehrerinnen zur Seite hatte, die einander trotz des Lächelns auf ihren Lippen aufs bitterste anfeindeten und Miß Monflathers zärtlich ergeben waren.
    Verwirrt durch die neugierigen Blicke und das Geflüster der Mädchen, stand Nell mit niedergeschlagenen Augen da und ließ die Prozession an sich vorüberziehen, bis Miß Monflathers, die den Nachtrab bildete, herankam. Jetzt knickste sie und bot der Dame ihr kleines Päckchen an, worauf Miß Monflathers, nachdem sie es in Empfang genommen hatte, die Reihe haltmachen ließ.
    »Du bist das Kind aus dem Wachsfigurenkabinett, nicht wahr?« fragte Miß Monflathers.
    »Ja, Madame«, versetzte Nell hocherrötend, denn die jungen Damen hatten sich um sie geschart, und sie bildete den Mittelpunkt, auf den alle Augen gerichtet waren.
    »Und kannst du dir denn nicht denken, daß du ein ganz schlechtes kleines Mädchen sein mußt«, sagte Miß Monflathers, die ziemlich launenhafter Natur war und nie eine Gelegenheit vorübergehen ließ, den zarten Gemütern der jungen Damen moralische Wahrheiten einzuprägen, »da du doch sonst unmöglich ein Wachsfigurenkabinettskind sein könntest?«
    Da die arme Nell ihre Lage nie in diesem Lichte betrachtet hatte und deshalb auch nicht wußte, was sie sagen sollte, blieb sie stumm und errötete nur noch tiefer als zuvor.
    »Weißt du nicht«, fuhr Miß Monflathers fort, »daß dies sehr nichtsnutzig, unweiblich und eine Verkehrung derjenigen Eigenschaften ist, die uns weise und gnädig verliehen wurden, um die expansiven Kräfte durch das Medium der Kultur aus ihrem Schlummer zu wecken?«
    Die zwei Hilfslehrerinnen murmelten ihren achtungsvollen Beifall über diesen Angriff und sahen Nell an, als wollten sie sagen, daß Miß Monflathers ihr das wirklich sehr gut gegeben hätte. Dann lächelten sie und blickten auf Miß Monflathers, und als ihre Augen einander trafen, tauschten sie Blicke aus, die deutlich bekundeten, daß jede sich selbst als Miß Monfla
thers' eigens bestallte Lächlerin betrachtete, weshalb die andere kein Recht zum Lächeln habe und sich im gegebenen Fall eine Anmaßung und Unverschämtheit zuschulden kommen ließe.
    »Fühlst du nicht, wie schlecht es von dir ist«, nahm Miß Monflathers den Faden wieder auf, »ein Wachsfigurenkabinettskind zu sein, wenn du das stolze Bewußtsein haben könntest, die Manufakturen deines Vaterlandes zu unterstützen, soweit es deine kindlichen Kräfte zulassen, deinen Geist durch die beharrliche Betrachtung der Dampfmaschine zu veredeln und ein behagliches und unabhängiges Auskommen von zwei Schilling neun Pence bis zu drei Schilling wöchentlich zu verdienen? Weißt du nicht, daß du nur um so glücklicher sein würdest, je angestrengter du arbeiten müßtest?«
    »Was macht die kleine …«
     
    murmelte eine der Lehrerinnen als Zitat aus Doktor Watts.
    »Wie?« fragte Miß Monflathers, sich rasch umwendend; »wer hat das gesagt?«
    Natürlich deutete die Lehrerin, die nichts gesagt hatte, auf ihre Nebenbuhlerin, der Miß Monflathers stirnrunzelnd Schweigen gebot, wodurch sie die Angeberin in einen wahren Freudentaumel versetzte.
    »Die kleine, emsige Biene«, sagte Miß Monflathers, indem sie sich in die Brust warf, »ist nur auf die Kinder der Vornehmen

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