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Der Raritätenladen

Der Raritätenladen

Titel: Der Raritätenladen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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Das Recht war ihre Amme gewesen, und sofern man schiefe Beine und ähnliche physische Deformitäten der Kinder für die Folgen schlechter Pflege hält, so konnte man nur der Amme von Miß Sally Braß einen Vorwurf machen, wenn sich in einer so schönen Seele irgendeine moralische Schiefe oder Verkrümmung vorfand.
    Diese Dame also war es, auf die Herr Swiveller in seiner lebensfrohen Frische den Eindruck einer neuen, nie geträumten Erscheinung machte, wenn er das Bureau mit seinen Liederstrophen und seiner Jovialität erheiterte, mit Tintenfässern und Oblatenschachteln Taschenspielerkünste ausführte, mit einer Hand drei Orangen auffing, die Schreibeböcke auf dem Kinn und das Federmesser auf der Nase balancierte und ohne Unterlaß hundert andere Großtaten einer ähnlichen Kunstfertigkeit ausführte; denn mit solchen Erholungen tötete Richard, wenn Herr Braß abwesend war, die Langeweile seiner Gefangenschaft. Diese geselligen Eigenschaften, die Miß Sally ganz zufällig entdeckte, machten allmählich einen solchen Eindruck
auf sie, daß sie Herrn Swiveller oft zu bitten pflegte, er möchte ein wenig ausruhen und tun, als ob sie nicht zugegen wäre, was sich Herr Swiveller natürlich nicht zweimal sagen ließ. Und so entspann sich zwischen ihnen eine Freundschaft. Herr Swiveller gewöhnte sich allmählich daran, sie so wie ihr Bruder zu behandeln und wie er irgendeinen andern Schreiber behandelt haben würde. Er weihte sie in das Geheimnis ein, um Obst, Ingwerbier, gebratene Kartoffeln oder auch um einen bescheidenen ›Löscher‹ Karten zu spielen, und Miß Braß nahm keinen Anstand, die Spielprämien mit zu genießen. Oft wußte er sie auch zu bereden, daß sie zu dem ihrigen auch noch seinen eigenen Schreibereianteil übernahm, und bisweilen belohnte er sie dafür mit einem kräftigen Schlag auf den Rücken, wobei er beteuerte, sie sei ein verteufelt guter Kerl, ein jovialer Kauz und dergleichen, Komplimente, die Miß Sally in der besten Laune und mit vollkommener Zufriedenheit entgegennahm.
    Nur ein Umstand lag schwer auf Richards Herzen, nämlich daß die kleine Dienstmagd sich fortwährend in den Eingeweiden der Erde unter Bevis-Marks umhertrieb und nie auf die Oberfläche kam, außer wenn der ledige Herr klingelte; dann erschien sie wohl, verschwand aber augenblicklich wieder. Sie ging nie aus, kam nie in das Bureau, hatte nie ein reines Gesicht, nahm nie ihre grobe Schürze ab, sah nie aus dem Fenster, stand nie unter der Haustür, um frische Luft einzuatmen, und hatte nie Ruhe noch sonst eine Erholung. Niemand besuchte sie, niemand sprach mit ihr, und niemand kümmerte sich um sie. Herr Braß hatte einmal gesagt, er glaube, sie sei ›ein Kind der Liebe‹, was alles andere, nur nicht ein geliebtes Kind besagen will, und dies war die ganze Auskunft, die Richard Swiveller zu erlangen wußte.
    »Es führt zu nichts, wenn ich den Drachen darüber befra
ge«, dachte Dick, als er eines Tages dasaß und sich in die Züge von Miß Sally Braß vertiefte; »denn wenn ich in dieser Hinsicht Fragen an sie stellte, so wäre es vermutlich mit unserm guten Einvernehmen zu Ende. Ich möchte übrigens wissen, ob sie wirklich aus dem Drachengeschlecht ist oder ob sie nicht zur Rasse der Meerjungfern gehört. Jedenfalls hat sie ein etwas schuppiges Aussehen. Aber Meerjungfern betrachten sich gern im Spiegel, was bei ihr nicht zutrifft; auch pflegen sie sich häufig die Haare zu kämmen, was bei ihr wieder nicht der Fall ist. Nein, sie ist ein Drache.«
    »Wohin wollen Sie, alter Bursche?« sagte Dick laut, als Miß Sally ihre Feder wie gewöhnlich an dem grünen Kleide abwischte und von ihrem Sitze aufstand.
    »Zum Mittagessen«, antwortete der Drache.
    »Zum Mittagessen!« dachte Dick. »Das ist etwas anderes. Ich glaube nicht, daß die kleine Dienstmagd je etwas zu essen kriegt.«
    »Sammy kommt nicht nach Hause«, sagte Miß Braß; »bleiben Sie, bis ich wieder zurückkomme, es wird nicht lange dauern.«
    Dick nickte und verfolgte mit den Augen Miß Braß bis zur Tür, mit den Ohren aber bis zu dem kleinen Hinterstübchen, in dem sie und ihr Bruder ihre Mahlzeiten einzunehmen pflegten.
    »Nun«, sagte Dick, indem er, die Hände in seinen Taschen, auf und ab ging, »ich würde etwas geben, vorausgesetzt, daß ich etwas hätte, wenn ich wüßte, wie man jenes Kind behandelt und wo es sich aufhalten muß. Meine Mutter muß eine sehr neugierige Frau gewesen sein, und ohne Zweifel habe ich irgendwo ein Fragezeichen als

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