Der Raritätenladen
Todes – erfüllten ihre Seele mit ernsten Gefühlen, in die sich jedoch weder Schrecken noch Unruhe mischten. In der Zeit ihrer Einsamkeit und ihres Kummers war allmählich eine Veränderung mit ihr vorgegangen. Mit den sinkenden Kräften und der sich steigernden Entschlossenheit hatte sich auch ihr Geist gereinigt und geläutert. In ihrem Herzen sproßten selige Gedanken und Hoffnungen auf, wie sie nur wenigen, den Schwachen und Gebeugten ausgenommen, zuteil werden. Niemand war Zeuge, wie die zarte, hinfällige Gestalt von dem Feuer wegglitt und gedankenvoll an dem offenen Fenster lehnte, niemand als die Sterne, die in das aufwärts gerichtete Antlitz blickten und seine Geschichte lasen. Die alte Kirchturmglocke rief mit klagendem Tone die Stunde aus, als hätten der häufige Verkehr mit den Toten und die unbeachteten Warnrufe an die Lebenden sie wehmütig gestimmt; das abgefallene Laub raschelte; auf den Gräbern säuselte das hohe Gras; alles übrige war still und schlief.
Einige jener traumlosen Schläfer lagen im Schatten der Kirche, hart an der Mauer, als klammerten sie sich hier an, um Trost und Schutz zu finden; andere hatten einen Ruheplatz unter den hin und her huschenden Schatten der Bäume vorgezogen. Einige lagen am Wege, um den Schritten der Menschen näher zu sein, andere schlummerten zwischen den Gräbern kleiner Kinder. Die einen hatten gewünscht, unter demselben Rasen zu ruhen, den sie auf ihrem täglichen Weg betreten hatten, andere dort, wo die untergehende Sonne ihre Stätte mit den letzten Strahlen berührte; wieder andere wollten von der
aufgehenden Sonne begrüßt werden. Vielleicht war nicht eine unter diesen jetzt fessellosen Seelen imstande gewesen, sich zur Zeit ihres Erdenwallens ganz von ihrem Gefährten, dem Staubleibe, getrennt zu denken. Und wenn es je der Fall war, so fühlten sie doch immer eine Liebe für ihn, wie sie etwa der Gefangene für die Zelle fühlt, die ihn lange umschlossen hat und an deren engen Grenzen er beim Scheiden noch mit Zärtlichkeit hängt.
Es währte lange, bis Nell das Fenster schloß und sich ihrem Bett näherte. Abermals beschlich sie dasselbe Gefühl wie früher, ein unwillkürliches Schaudern, ein augenblickliches Gefühl wie Furcht; aber es verschwand auch ebenso rasch, ohne irgendeine Unruhe zurückzulassen. Und auch jetzt wieder Träume von dem kleinen Schüler! Das Dach tat sich auf und eine Himmelsleiter strahlender Gesichter, die weit bis in die Wolken reichte – sie hatte es einmal so in einem alten Bibelbilde gesehen –, sah auf sie nieder, während sie schlummerte. Es war ein süßer und glücklicher Traum. Der ruhige Friedhof draußen schien derselbe zu sein, nur daß Musik leise durch die Luft zitterte und ein sanftes Rauschen, wie von Engelsfittichen herrührend, zu ihr drang. Nach einer Weile kamen auch die Schwestern Hand in Hand zwischen den Gräbern; und dann wurde der Traum unbestimmter und entschwand.
Mit dem frohen Glanze des Morgens kehrten auch die Beschäftigungen, die heitern Gedanken, die Tatkraft und die Hoffnungsfreudigkeit von gestern zurück. Sie arbeiteten fröhlich an der Instandsetzung und Einrichtung des Hauses bis Mittag, und dann statteten sie dem Geistlichen ihren Besuch ab.
Es war ein einfacher, alter Herr von schüchternem und gedrücktem Gemüt, gewöhnt an die Einsamkeit und wenig bekannt mit der Welt, aus der er sich seit vielen Jahren zurückge
zogen hatte, um sich an diesem Orte niederzulassen. Seine Frau war in dem Hause gestorben, in dem er noch lebte, und seit langer Zeit waren ihm Erdensorgen und Erdenhoffnungen fremd geworden.
Er nahm sie sehr freundlich auf und zeigte sogleich lebhaften Anteil an Nell, die er nach ihrem Namen, ihrem Alter, ihrem Geburtsort, nach den Umständen, die sie hierhergeführt, und dergleichen mehr fragte. Der Schulmeister hatte bereits ihre Geschichte erzählt. Sie hätten keine andern Freunde, keine Heimat und wären mit ihm gekommen, um sein Geschick mit ihm zu teilen. Er liebe das Kind, als ob es sein eignes wäre.
»Gut, gut«, sprach der Geistliche; »es geschehe nach Eurem Wunsche. Sie ist sehr jung.«
»Alt, wenn man an ihre Prüfungen und an ihr Mißgeschick denkt, Sir«, versetzte der Schulmeister.
»Gott helfe ihr! Möge sie Ruhe finden und vergessen«, sagte der alte Herr. »Aber eine alte Kirche ist ein düsterer und trübseliger Aufenthalt für ein so junges Geschöpf, wie du bist, mein Kind.«
»O nicht doch, Sir«, versetzte Nell. »Daran denke ich
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