Der Rattenfänger
andere töricht und ein paar feige gewesen. Aber wahre Freunde? Männer, für die er bereitwillig in der Hitze des Gefechts sein Leben geopfert hätte? Da gab es nur wenige. Wahrscheinlich nicht mehr, als er an einer Hand abzählen konnte, und die meisten davon waren tot. Natürlich war da noch Jago. Alles in allem stand ihm der Exsergeant so nahe wie sonst niemand. Zumindest hatte das für die Zeit vor ihrer beider Rückkehr nach England gegolten. Jetzt war er sich dessen nicht mehr so sicher, denn Jago lief jetzt mit den Hasen, während er zu den Jagdhunden gehörte. Außerdem hatte Jago ihn in all den Jahren, die sie zusammen gewesen waren, nie mit Vornamen angesprochen. In der Armee hatte selbst unter Freunden der Dienstgrad Vorrang. Und was sein jetziges Leben betraf, so gab es im Kollegenkreis ein abgedroschenes Sprichwort: Ein Bow Street Runner macht sich keine Freunde – er kennt nur Informanten.
»Matthew«, sagte Hawkwood schließlich. »Ich heiße Matthew.«
»Also, mein Matthew«, sagte sie sanft. »Woher hast du diese Narben an deinem Hals?«
Es waren eigentlich keine Narben, sondern nur eine unregelmäßige Reihe verblasster Flecke, die von der rechten Unterseite des Kinns bis zu seinem rechten Ohr verlief. Normalerweise wurden diese Verfärbungen von seinem Kragen verdeckt, doch jetzt waren diese Male sichtbar geworden.
Hawkwood legte seine Hand über ihre forschenden Finger. Sie spürte den Stimmungswandel in ihm, runzelte die Stirn und fragte: »Hast du Angst, mir davon zu erzählen?« Dann stockte ihr kurz der Atem. »Warte, ich verstehe. C’est une … «
Mit zusammengezogenen Brauen suchte sie nach Worten.
»… ein Muttermal, nicht wahr?«
Hawkwood streichelte geistesabwesend die samtene Haut ihrer Hüfte. Es war nicht das erste Mal, dass ihn jemand nach diesen Malen an seinem Hals fragte, noch war es das erste Mal, dass er einer Antwort auswich. Es waren weder Muttermale noch Andenken an seine Soldatenlaufbahn oder seinen Beruf als Runner. Diese Male gehörten einer längst vergangenen Zeit an, einer dunklen Zeit in seinem Leben, an die er nicht zurückdenken wollte, denn sie waren Zeichen dafür, wie sich das Schicksal eines Mannes von einem Augenblick zum anderen für immer ändern konnte.
»Ach, mein armer Matthew«, sagte Catherine, denn sie spürte seine innere Unruhe. Dann legte sie ihm die Arme auf die Brust, verschränkte die Finger und blickte zu ihm hoch.
»Erzähl mir alles. Ich will alles über dich wissen.« Sie musterte ihn abwägend. »Ist es üblich, dass sich ein Gesetzeshüter duelliert? Wegen einer Frau?«
»Das kommt wohl auf die Frau an«, reagierte er auf ihre provozierende Frage.
Mit gespielter Verärgerung gab sie ihm einen Klaps auf den Arm, senkte den Kopf und küsste zärtlich die Stelle. Dann sah sie ihm in die Augen und fragte mit ernster Miene: »Also, erzähl mir, mein Captain, hast du als Soldat viele Männer getötet?«
»Ich habe sie nicht gezählt.«
Auf einen Ellbogen gestützt, strich sie mit der Fingerspitze über die Muskeln an seinem Unterarm. »Aber du hast gekämpft und getötet?«
»Ja.«
»Franzosen? Bonapartes Soldaten?«
»Größtenteils«, antwortete er widerstrebend.
»Du sprichst nicht gern darüber?«, fragte sie.
»Nein, nicht besonders.«
Jetzt zog sie wieder die Brauen zusammen. »Hat es dir etwas ausgemacht? Das Töten, meine ich?«
»Damals nicht.«
»Es hat dir also Spaß gemacht?«, fragte sie beinahe herausfordernd und reckte sich träge. Wie eine gesättigte Katze, die ein Schälchen Rahm getrunken hat, musste Hawkwood denken.
»Es war Krieg. Ich war Soldat und musste den Feind bekämpfen. Ich hatte keine andere Wahl.«
»Hast du deshalb diesen Rutherford verschont? Weil du eine Wahl hattest?«
»Formulieren wir es so: Ich habe es satt, Männer unnötigerweise sterben zu sehen.«
Catherine setzte sich abrupt auf. »Ich an deiner Stelle wäre nicht so nachsichtig gewesen. Ich hätte ihn getötet!«
Ihr vehementer Ausbruch erschreckte ihn.
»Zweifelst du daran?«, fragte sie, und ihr Blick warnte ihn, ihr zu widersprechen.
»Keine Sekunde«, sagte Hawkwood wahrheitsgemäß, stützte sich mit einer Hand ab und streifte dabei die Unterseite des Kissens.
»Verdammt!«
Der Schmerz war so heftig, als wäre die Spitze einer Klinge in ihn eingedrungen. Mit einem Ruck zog er die Hand unter dem Kissen hervor. Aus einem Finger quoll ein dunkelroter Blutstropfen. Der stammte gewiss nicht von einem Wespenoder
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