Der Regen in deinem Zimmer - Roman
Seite ist. Ich bezweifle, dass die Toten einander sehen können, aber ich weiß, dass meine Mutter an Marias Grab stehen geblieben wäre und sich gefragt hätte, wer sie war und woran sie gestorben ist.
Jeden Sonntag kommen meine Großmutter und ich auf den Friedhof. Keine von uns sagt ein Wort. Jede erfüllt ihre Aufgaben schweigend: Sie geht Wasser holen und wirft die verwelkten Blumen fort, ich stelle die frischen in die Vase und fege unter dem Grabstein.
Als ich noch klein war und mit meiner Mutter auf den Friedhofkam, um meinem Großvater guten Tag zu sagen, wie sie es nannte, war alles anders. Wir redeten und betrachteten die Statuen auf den alten Gräbern. Die hohen Zypressen hoben sich gegen das Blau des Himmels ab, die große Schirmpinie ragte über die Mauer zwischen Friedhof und Klostergarten, und es war überhaupt nicht traurig. Sterben erschien sanft wie die Blumen oder wie das Lächeln der Standbilder, die wir so gern mochten. Der Friedhof war kein einsamer Ort, und ich dachte, die Toten wären glücklich und nicht allein, sondern nur unsichtbar und hätten ihren Spaß.
Heute, da sie selbst unsichtbar ist, nehme ich stets den längsten Weg zum Friedhofsausgang und versuche in dieser stehengebliebenen Zeit etwas Neues zu entdecken.
Ich stelle mir Maria als eine fröhliche junge Frau vor, wie meine Mutter es war, die an einfachen Dingen Spaß hatte, zum Beispiel ins Kino gehen; damals sagte man wohl ins Filmtheater.
Manchmal stelle ich mir vor, wie sie schweigend zusammen spazieren gehen: Hin und wieder fährt sich meine Mutter mit der Hand durchs dunkle Haar, und Maria legt die Finger an die Lippen, verblüfft über ihr verlorenes Leben.
9. November
Nach drei Tagen ist Gabriele wieder in der Schule. Zu meiner eigenen Überraschung und offenbar nicht im Bilde darüber, was in meinem Hirn so vor sich geht, frage ich ihn, wieso er die letzten Tage nicht da war, gerade so, als hätten wir tags zuvor Stunden am Telefon verbracht oder wie alte Freunde auf Facebook gechattet. Er sieht mir direkt in die Augen, um zu kapieren, ob ich ihn auf den Arm nehme. »Und?«, bohre ich weiter. »Wieso warst du nicht da?« Damit er weiß, dass ich es ernst meine, versuche ich einigermaßen streng zu klingen und kassiere ein schroffes »Kümmer dich um deinen eigenen Scheiß«. Belämmert und kleinlaut sitze ich da. Wie konnte ich nur? Wie komme ich bloß auf die Idee, mich so weit vorwagen zu dürfen? Einen Tisch zu teilen bedeutet nichts, das habe ich bereits hinlänglich begriffen, und außerdem bin ich diejenige, die sich eingeladen hat. Es ist nur gerecht, dass er mir so antwortet und ich mich wie ein Volltrottel fühle. O Gott, wie peinlich! Ich schwöre mir, dass ich so etwas nie wieder tun werde. Nie wieder.
Sobald es klingelt, stehe ich auf und flüchte in den Hof. Ich stelle mich zu denen aus der Zwölf und höre zu, wie sie sich über Brust- und Nasen- OP s unterhalten. Irgendwann kommt Sonia auf mich zu, doch statt mich zu verdrücken, beschließe ich, mir heute ein kleines Schwätzchen zu erlauben. Aber wenn sie wieder mit dem üblichen »Was ist bloß mit dir los …« anfängt, kriegt sie eine gelangt. Stattdessen versucht sie, witzig zusein und fragt mich verschmitzt, wie es im Süden so ist. Ich brauche einen Moment, bis ich drauf komme, was sie meint. »Im Norden, meinst du«, erwidere ich patzig, damit sie merkt, dass ihr Witz ziemlich daneben ist. In Zerolandia wird ein sehr viel feinsinnigerer Humor gepflegt, aber das kann sie nicht wissen. Als ich gerade weggehen will, taucht Lucio Micali aus der 13 C auf, legt mir von hinten einen Arm um die Schultern und sagt: »Prinzessin Zeta, willkommen zurück … nach den Abenteuern im barbarischen Feindesland endlich wieder unter uns.« Ich fahre herum, doch statt ihn anzublaffen, schenke ich ihm ein strahlendes Lächeln. Prinzessin Zeta gefällt mir, wieso sollte ich sauer sein?
Nach der Pause geht es mir besser, doch wieder an meinem Platz, fühle ich mich verdammt unwohl.
Am liebsten wäre ich unsichtbar, weit weg und ganz für mich, einfach so.
In deinen Augen
Über ein Monat ist seit deinem Tod bereits vergangen, und noch immer liegt der gleiche abwesende Ausdruck auf Nonnas Gesicht. Sie kocht, wäscht und tut all das, was sie immer getan hat, aber sie wirkt dabei wie jemand, dem man alles genommen und unsagbare Gewalt angetan hat: kummervolle Miene, zusammengepresste Lippen. Wenn ich nach Hause komme, bemüht sie sich, freundlich zu sein und
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