1764 - Die Killerin
Nancy Wilson wischte über ihre Lippen. Danach war das nass glänzende Gesicht an der Reihe.
»Und wer soll uns töten?«, fragte Suko, der neben mir saß und die Frau nicht aus den Augen ließ.
Sie lachte nur.
Das Thema war für Suko noch nicht vorbei. »Etwa der Mentalist, auf den du setzt? Das eine Auge?«
Sie schwieg, aber sie lächelte. Wir konnten es als eine Art von Zustimmung ansehen.
Der Mentalist war auch für Suko und mich so etwas wie ein Rätsel. Wir kannten ihn nicht. Er war ein Phantom, eine Gestalt, von der man nur flüsternd sprach. Er war da, aber wir hatten ihn noch nicht zu Gesicht bekommen.
Dafür gab es etwas anderes, das auf ihn hinwies.
Ein Auge!
Ja, ein Auge, das plötzlich entstand und wie aus dem Nichts kam. Es war dann da, es war gut zu sehen, es schaute auch seinen Betrachter an, und es war so etwas wie die abgebildete Bösartigkeit, die einen Menschen nicht nur anglotzte, sondern auch übernehmen wollte, was leicht passierte.
Und dann gab es für den Übernommenen keine Regeln mehr. Was ihn als Menschen ausgemacht hatte, war über Bord geworfen worden. Wir konnten darüber nur den Kopf schütteln. Bei Nancy Wilson hatten wir es erlebt. Sie, eine völlig normale junge Frau, war plötzlich durchgedreht und hatte zwei Menschen, eine Frau und einen Mann, eiskalt umgebracht. Fremde Personen. Für sie waren es nur Opfer. Sie hatte das Messer genommen und zugestochen. Sie hatte keine Gnade gekannt, und auch jetzt, als sie vor uns saß, wies nichts darauf hin, dass sie die Tat bereute.
Für uns war der Mentalist wichtig, die Person, die hinter ihr stand. Nur das Auge war uns bekannt, und wir gingen davon aus, dass es zwischen ihm und dem Mentalisten einen Zusammenhang gab.
Wir hatten ihr einen Becher mit Wasser hingestellt, aus dem sie einen Schluck trank. Sie machte nicht den Eindruck einer unsicheren Person. Ganz im Gegenteil, die junge Frau ließ sich durch nichts beirren oder aus dem Konzept bringen. Denn ihr war klar, dass wir etwas von ihr wollten und nicht sie von uns.
»Er ist dabei«, sagte sie.
»Und wer noch?«
Sie lächelte Suko an. »Es bringt nichts, wenn ich es euch sage. Ihr kennt ihn nicht.«
»Vielleicht doch.«
»Ich weiß nur, dass seine Kraft sehr mächtig ist. Ich fühle mich als sein Geschöpf, aber ich bin es nicht allein, das kann ich euch sagen. Es gibt noch andere, auf die er sich verlassen kann.«
Jetzt stellte ich die Frage. »Auf wen kann sich der Mentalist noch verlassen? Wer ist es?«
»Auf sein bestes Geschöpf. Es ist längst unterwegs. Es ist in der Spur.«
»Schön. Hat es auch einen Namen?«
»Das weiß ich nicht.«
»Wieso? Jeder hat einen Namen. Auch...«
»Ja, ja, es gibt einen Namen. Wir nennen sie die Killerin. Nicht mehr und nicht weniger.«
Suko und ich schauten uns an. Die Killerin, das war ein Begriff, doch wir kannten niemanden, auf den er sich bezog.
Ich schüttelte den Kopf. »Das sagt uns nichts.«
»Ja, sie ist eine Frau.«
»Haben wir uns schon gedacht, dass sie eine Frau ist. Aber mehr weißt du nicht?«
»Keine Ahnung.« Sie lächelte uns an, und ich hatte den Eindruck, dass sie schon mehr wusste, es aber nicht sagen wollte. Sie trank wieder und leerte ihr Glas.
»Hat sie auch einen Namen?«
»Bestimmt.«
»Dann sag ihn.«
»Sie heißt Olga.«
»Aha! Dann kennst du sie also doch.«
»Ja und nein. Ich habe sie ja nie gesehen, ich meine, nicht persönlich.«
»Was dann? Woher ist sie bekannt?«
Nancy Wilson senkte den Blick. Sie lächelte wissend und flüsterte: »Wollt ihr sie wirklich sehen?«
»Ja. Wir sind gespannt. Schließlich kennen wir auch dich.«
»Es gibt einen Weg«, flüsterte sie.
»Sehr gut. Und wie sieht der aus?«
»Internet.«
Sie hatte nur ein Wort gesagt. Suko und ich schauten uns an. Es stellte sich die Frage, ob sie uns auf den Arm nehmen wollte. Ich rechnete damit, dass sie uns nicht an der Nase herumführen wollte, dazu sah sie zu ernst aus.
Suko wiederholte den Begriff als Frage.
»Ja, Internet.«
»Und was bekommen wir zu sehen, wenn wir auf die Seite gehen?«
»Sie.«
»Aha. Und weiter?«
»Man sieht sie in Aktion. Es ist eine Werbung, die der Mentalist gestaltet hat. Wen man sie sieht, ist man begeistert. Sie ist der Triumph, sie ist von der Hölle geschickt. Manche sagen sogar, dass sie die Hölle ist, und das hat auch dem Mentalisten gefallen.«
»Du meinst seinem Auge«, sagte ich.
»Auch das. Er braucht keinen Körper. Das Auge reicht ihm. Ihr werdet euch wundern.
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