Der Regen in deinem Zimmer - Roman
trug Zero keine Markenklamotten, und als Krönung war er auch noch dabei beobachtet worden, wie er bei den Dealern auf dem kleinen Platz hinter der Schule Gras kaufte, was bei meinen Klassenkameraden, die sich samstagabends bis zum Abwinken mit Pillen und Alkohol zudröhnten, als völlig uncool galt. Mit so einem redete man nicht, und wenn man es tat, war man eine arme Sau, die sonst nirgendwo landen konnte. Niemand von uns hatte ihn je zusammen mit jemandem aus der Schule gesehen. Kurz, Zero war allenfalls für ein paar Lacher und gegen die gröbste Langeweile gut. Er war x-mal in der Nachprüfung gelandet und mindestens einmal hängengeblieben, und jedes Jahr hofften die Lehrer aufs Neue, er würde nicht mehr auftauchen. Doch er kam wieder, mit dem üblichenRucksack und dem verschlossenen Blick eines Menschen, der nur in Ruhe gelassen werden will. Zwei Jahre lang hatten wir ihn hereinkommen und sich auf den immer gleichen Platz setzen sehen und, ohne zu wissen, warum, darüber gelacht. Er sah uns noch nicht einmal an und ebenso wenig die Lehrer, die eine Erklärung für nicht gemachte Hausaufgaben verlangten und ihn schweigend anstarrten, wenn er im mündlichen Test auf keine der Fragen eine Antwort wusste. Es war das letzte Schuljahr, und womöglich ließen sie ihn sogar durchkommen, damit er sich irgendwo anders ausschwieg. Man konnte noch so viel Kohle haben und der Beste, Schönste und Hipste der Klasse sein, gab man sich mit Zero ab, war man eine Null. Wenn man gewisse Dinge tut, ist es, als würde man eine Maske aufsetzen, hinter der man verschwindet und nichts mehr wert ist.
Als ich mich setze, bin ich wie betäubt. Meine Ohren rauschen, mein Herz pocht, und ich habe nicht den blassesten Schimmer, weshalb ich das tue. Wut? Schmerz? Nein, der Schmerz ist es nicht, ich weiß noch nicht mal, wie er inzwischen aussieht, dieser Schmerz, und wo er sich verkrochen hat. Nach deinem Tod kann nichts mehr so sein wie vorher, ich bin der Zauberlehrling, dem niemand helfen kann. Es ist weder Selbstkasteiung, noch sind es Schuldgefühle, aber etwas ist geschehen, das Leben hat sich verändert und ist zu etwas geworden, mit dem man nicht gerechnet hat, weil so was immer nur anderen passiert. Doch diesmal hat es einen selbst erwischt, und man muss etwas unternehmen, die Gewissheiten abschütteln, am Lack der fraglosen Selbstverständlichkeiten kratzen, sich an das Unvorhersehbare gewöhnen, an den irren Kobold, den man in sich hat und der nur darauf wartet, plötzlich loszukreischen.
Sobald ich sitze, geht mir auf, dass ich nicht ganz bei Trost sein muss: Bis vor wenigen Monaten wäre ich in meinen kühnsten Träumen nicht darauf gekommen, so etwas zu tun, nicht einmal im Drogenrausch. Und jetzt hocke ich hier, zugedröhnt mit einem Cocktail aus Traurigkeit und einer lächerlichen Prise Wahnsinn, und der Countdown läuft: drei, zwei, eins, Zero.
So beginne ich mein letztes Schuljahr damit, einen Strich zwischen mir und den anderen zu ziehen. Zwischen mir ohne dich und dem Rest der Welt.
Als ich neben Gabriele Platz nehme, sieht er noch nicht einmal auf. Vollkommen reglos sitzt er da und verzieht keine Miene. Womöglich denkt er, ich drehe am Rad, weil ich meine Mutter verloren habe, sollte die Nachricht bis zu seinem Planeten vorgedrungen sein. Ich frage ihn nicht um Erlaubnis, es kommt mir gar nicht in den Sinn, dass meine Gegenwart ihn stören könnte. Ich setze mich und basta. Ab jetzt sind wir Ale und Gabriele, wie zwei Namen in einem Herz.
Noch immer glotzt mich die ganze Klasse sprachlos an, irgendjemand prustet los, als hätte ich den größten Witz aller Zeiten gelandet. Ich höre jemanden flüstern: »Ist die verrückt geworden?«, und dann nehmen alle ihre Plätze ein und der Unterricht beginnt. Die Lehrer, die sich an diesem Vormittag die Klinke in die Hand geben, werfen mir einen flüchtigen Blick zu, aber bis auf das eine oder andere kurze »Schön, dass du wieder da bist«, sagen sie nichts. Nur Sonia dreht sich während der Mathestunde mit aufgerissenen Augen zu mir um und macht mir Handzeichen, die so viel heißen wie, was machst denn du für ’ne Scheiße? Ich sehe sie an, hebe fragend dasKinn, schüttle den Kopf und tue so, als verstünde ich nicht. Als es zur Pause klingelt, schlüpfe ich hastig und ohne jemanden anzusehen, hinaus, gehe zuerst aufs Klo und dann ans hinterste Ende des Flurs, wo die unteren Klassen sind und ich niemanden kenne. Ich lehne mich neben dem Fenster an die Wand, bleibe zehn
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