Der Richter aus Paris - Eine fast wahre Geschichte
sie zu befragen; dabei galt er doch als einer der erfahrensten Untersuchungsrichter von Paris - und als der kaltschnäuzigste. Gerade in diesem Fall hatte er jede Person der Republik, die irgendetwas mit dem Fall zu tun haben könnte, vernommen, Minister, Parteiführer, Unternehmer und Präfekten, Polizeipräsidenten, ehemalige Generäle und auch deren Fahrer, Sekretärinnen, Referenten und Geliebte. Nie war er um Fragen verlegen gewesen. Meist hatte er sie in Paris, in seiner Festung, wie er das Dienstzimmer nannte, gestellt, während Martine Hugues, seine Gerichtsschreiberin, schweigend Protokoll führte.
In Amadees Augen vermutete er ein schelmisches Lächeln, als wollte sie ihn fragen, woran er sich vom gestrigen Abend noch erinnere.
Heute früh, als er in einem Gästezimmer im oberen Stockwerk aufgewacht war, jemand hatte ihm Jacke, Krawatte und Schuhe ausgezogen, hatte die Tür zur Galerie offen gestanden, die Sonne schien hell herein, und die seidenen Vorhänge wisperten leise, als die Stoffe sich im warmen Wind streiften. Auf den Holzdielen standen wenige Möbel, eine polierte Kommode aus
edlem Holz an der Wand, ein zierlicher Schreibtisch, am Fenster ein Sessel aus Flechtwerk.
Zwei große kolorierte Kupferstiche, die einen exotischen Vogel zeigten, hingen an der Wand, und Jacques dachte, es könnten Arbeiten von Jean Jacques Audubon sein, aber höchstens Drucke, denn ein Original aus dem neunzehnten Jahrhundert würde sich nur ein sehr wohlhabender Bananenpflanzer leisten können. Doch als er näher hinschaute, erkannte er auf den Blättern unten rechts die Bleistiftsignatur »2001 G.M.«. Hervorragende Arbeiten, dachte Jacques bewundernd.
Im Bad hatte er Rasierzeug und ein frisches Hemd gefunden. Er konnte sich an nichts mehr erinnern, an gar nichts, nur an den Rum, aber er verspürte keinen Kater. Er würde so tun, als wüsste er nicht, dass sie ihn absichtlich mit Tafia voll geschüttet hatten.
»Madame...«, setzte er an, doch sie unterbrach ihn mit einem Lachen. »Amadee - Jacques!«
»Danke, dass Sie mich so zuvorkommend aufgenommen haben. Ich bin...«
»Ich weiß, wer Sie sind: der unbeugsame Juge Ricou! Der Schrecken der Politiker. Ich weiß so ziemlich alles, selbst dass Sie geschieden sind! Schließlich steht über Sie genug in den Zeitungen. Jacques, eine kreolische Trauerfeier mag auf Sie befremdlich wirken, aber wer seine einheimischen Gebräuche hochhält, ist nicht unbedingt ein wilder, unwissender Neger. Auch wir sind Franzosen, unsere Vorfahren die Gallier!«
Jacques lachte mit ihr. Wenn Amadee auch eine hellhäutige Kreolin war, gallische Herkunft konnte er nicht an ihr erkennen. Unsere Vorfahren waren die Gallier! Diesen blöden Lehrsatz lernten noch vor wenigen Jahren alle französischen Schulkinder aus ihren in Paris gedruckten Schulbüchern, ganz gleich, ob sie nun in Frankreich, Guyana, auf Tahiti oder den französischen
Antillen aufwuchsen: »Nos ancetres les Gaulois« galt auch für Kreolen. Ihre kulturelle Arroganz haben die Vertreter des Zentralstaats selbst heute nicht abgelegt.
»Wir haben zwar hier auf der Habitation Alize weder Radio noch Fernsehen, wir haben noch nicht einmal Telefon. Gilles wollte von der Metropole nichts mehr wissen. Aber wir haben trotzdem vieles gehört, und Loulou hat mir alle Wissenslücken über Sie aufgefüllt.«
»Was macht Loulou?«
»Er ist Journalist in Fort-de-France. Wenn ich es richtig sehe, krempeln Sie gerade die politischen Parteien wegen Schmiergeldzahlungen um. Ich weiß nur nicht, warum Sie hier sind und was in aller Welt Sie zu Gilles führt?«
Sollte er die Wahrheit sagen, dass er eigentlich nur einem Gefühl nachgegangen war?
»Es hängt mit Ihrem Nachbarn Victor LaBrousse zusammen.«
»Mit LaBrousse hat sich Gilles seit über einem Jahr nicht mehr getroffen. Die beiden hatten sich verkracht.«
»Vielleicht hängt mein Besuch bei Ihnen mit der Ursache für diesen Krach zusammen. Waren die beiden Männer vorher gut befreundet?«
»Beide Familien waren Piedsnoirs, Franzosen, die seit Generationen in Algerien gelebt hatten.«
Kolonisatoren, die gekommen waren, als die Algerier angeblich die Franzosen, die mit schwarzen Stiefeln kamen, »schwarze Füße« nannten - Pieds noirs.
»Aber sie haben sich erst hier kennen gelernt. Gilles wohnte schon eine Ewigkeit auf Martinique, bevor Victor vor dreizehn oder vierzehn Jahren gekommen ist und seine Plantation gekauft hat.«
»Waren Sie bei dem letzten Treffen dabei?«
»Ja,
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