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Der Richter

Der Richter

Titel: Der Richter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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errichten wollte, gab es Papierkram zu erledigen, weil man eine Bewilligung brauchte. Das Resultat waren unreglemen-tierte Abrisse und Neubauten, ein architektonisches Chaos, das von Jahr zu Jahr hässlicher wurde.
    Die in der Nähe des Clanton Square gelegenen älteren Viertel der Kleinstadt hatten sich dagegen überhaupt nicht verändert. Ihre langen, schattigen Straßen waren noch genauso sauber und ordentlich wie zu der Zeit, als Ray dort Rad gefahren war. Noch immer waren die meisten Häuser von Menschen bewohnt, die Ray kannte, und wenn jemand weggezogen war, hatte er für neue Besitzer gesorgt, die ebenfalls den Rasen mähten und die Fensterläden strichen. Nur wenige Häuser wirkten vernachlässigt, bloß eine Hand voll lag verlassen da.
    Hier, mitten im »Bibelgürtel«, war es noch immer ein ungeschriebenes Gesetz, dass am Sonntag nicht viel auf dem Programm stand. Man ging in die Kirche, saß auf der Veranda, besuchte Nachbarn, ruhte und entspannte sich auf die Gott gefällige Weise.
    Es war ein bewölkter, für Mai ziemlich kühler Tag. Während Ray durch seine alte Heimatstadt fuhr, um die Zeit bis zu der Verabredung mit seinem Vater totzuschlagen, bemühte er sich, die wenigen guten Erinnerungen an Clanton wachzurufen, die ihm geblieben waren. Da waren der Dizzy Dean Park, wo er mit der Jugendmannschaft der Pirates Baseball gespielt hatte, die öffentliche Badeanstalt, wo er jeden Sommer geschwommen war -
    wenn man vom Jahr 1969 absah, als die Stadtverwaltung das Schwimmbad lieber ganz schloss, als auch für schwarze Kinder zu öffnen. Dann die Kirchen der Baptisten, Methodisten und Presbyterianer, die sich an der Kreu-zung Second Street und Elm Street wie aufmerksame Wachtposten gegenü-
    berstanden und sich gegenseitig den Rang des höchsten Gotteshauses streitig zu machen schienen. Im Moment waren die Kirchen leer, doch in etwa einer Stunde würden die gläubigeren Bürger der Stadt sich zum Abendgot-tesdienst versammeln.
    Der Clanton Square und die in ihn mündenden Straßen lagen verlassen da. Mit seinen achttausend Einwohnern war Clanton gerade groß genug, um für die Supermärkte, die so vielen anderen Kleinstädten den Garaus gemacht hatten, interessant zu sein. Aber hier waren die Menschen ihren Einzelhändlern treu geblieben, und um den ganzen Clanton Square herum gab es kein einziges leer stehendes oder mit Brettern vernageltes Geschäft, was schon eher ein großes als ein kleines Wunder war. Die Läden waren umgeben von Banken, Anwaltsbüros und Coffeeshops, die am Sonntag geschlossen hatten.
    Ray fuhr langsam in den Friedhof hinein und warf einen Blick auf die den Atlees vorbehaltene Zone im älteren Teil, wo die Grabsteine imposan-ter waren. Einige seiner Vorfahren hatten für ihre Toten wahre Monumente errichten lassen. Schon immer hatte Ray vermutet, dass das Familienvermögen, von dem er nie etwas gesehen hatte, in diesen Gräbern ver-buddelt sein musste. Nachdem er den Wagen geparkt hatte, ging er zum Grab seiner Mutter, was er jahrelang nicht mehr getan hatte. Zwar war sie bei den Atlees beigesetzt worden, doch am hinteren Ende der Familiensek-tion, weil sie nicht lange zu ihnen gehört hatte.
    Schon bald, in weniger als einer Stunde, würde er im Arbeitszimmer seines Vaters sitzen, schlechten Instanttee trinken und Instruktionen entgegen-nehmen, wie genau sein Vater zur Ruhe gebettet werden sollte. Weil der Richter ein bedeutender Mann und sehr um seinen Nachruhm besorgt war, musste er mit vielen Beschlüssen, Verfügungen und Anweisungen rechnen.
    Ray fuhr weiter und kam an dem Wasserturm vorbei, den er zweimal er-klommen hatte - beim zweiten Mal wartete unten die Polizei. Als er seine alte Highschool sah, zog er eine Grimasse. Seit seinem Abschluss hatte er die Schule nie wieder betreten. Dahinter lag der Football-Platz, wo Forrest seine Gegner über den Haufen gerannt hatte und fast berühmt geworden wäre, bevor man ihn aus dem Team warf.

    Es war Sonntag, der 7. Mai, zwanzig Minuten vor fünf - Zeit für das Familientreffen.

    Maple Run wirkte völlig ausgestorben. Der Rasen vor dem Haus war offenbar vor ein paar Tagen gemäht worden, und der alte schwarze Lincoln des Richters stand hinter dem Haus, aber abgesehen von diesen beiden Indizien gab es keinerlei Beweis dafür, dass während der letzten Jahre jemand hier gelebt hatte.
    Die Vorderseite des Hauses wurde von vier großen runden Säulen und einem Portikus dominiert. Wenn Ray hier wohnen würde, wären diese Säulen weiß

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