Der Richter
alter Knaben, die sich in der Küche im Keller der Kirche zur Sonntagsschule trafen.
Drei Tage lang zogen sich die Anhörungen hin. Da kein einziger Rechtsanwalt aus Clanton für The Cheerleaders eintreten wollte, wurden die Betreiber der Kinokette durch eine große Kanzlei aus Jackson vertreten.
Ein rundes Dutzend ortsansässiger Anwälte sprachen sich gegen den Film und ganz im Sinne der Geistlichen aus.
Als Ray zehn Jahre später an der juristischen Fakultät der Tulane-Universität studierte, beschäftigte er sich mit der Begründung, die sein Vater zu diesem Fall verfasst hatte. Der alte Atlee hatte sich an den seinerzeit auf Landesebene repräsentativen Fällen orientiert. Er wahrte in seinem Urteil die Rechte der Demonstranten - allerdings mit gewissen Einschrän-kungen -, gestattete die weitere Vorführung des Films jedoch mit Bezug-nahme auf ein aktuelles Urteil des Obersten Gerichtshofs.
juristisch gesehen hätte die Urteilsbegründung nicht perfekter, in politi-scher Hinsicht nicht unglücklicher sein können. Niemand war zufrieden.
Nachts wurde der Richter von anonymen Anrufern bedroht, und die Geistlichen beschimpften ihn von ihren Kanzeln herab als Verräter, der bei der nächsten Wahl die Quittung erhalten werde.
Der Clanton Chronicle und die Ford County Times wurden mit Leserbrie-fen überschwemmt. jeder einzelne beschimpfte Richter Atlee, weil er die Vorführung dieses obszönen Schunds in einer ansonsten moralisch tadello-sen Stadt gestattete. Als der Richter von der Kritik die Nase voll hatte, entschloss er sich zu einer öffentlichen Stellungnahme, die er an einem Sonntag in der Kirche der Presbyterianer abgeben wollte. Zeit und Ort schienen ihm ausgezeichnet gewählt. Wie immer in Clanton, sprach sich die Neuigkeit auch diesmal in Windeseile herum. In der bis auf den letzten Platz besetzten Kirche schritt der alte Atlee durch das Mittelschiff und erklomm dann die Stufen zur Kanzel. Er war über einen Meter neunzig groß und stämmig, und sein schwarzer Anzug verlieh ihm eine Aura der Allmächtigkeit. »Ein Richter, der vor einem Verfahren die Wählerstimmen zählt, sollte seine Robe verbrennen und die County schnellstens verlassen«, begann er in strengem Tonfall.
Ray und Forrest saßen in der hintersten Ecke der Empore, beide den Tränen nah. Sie hatten ihren Vater angefleht, ihnen dieses eine Mal zu er-lauben, den Gottesdienst zu schwänzen, doch das war unter keinen Um-ständen zulässig.
Nachdem der alte Atlee den weniger gut Informierten erläutert hatte, dass man unabhängig von persönlichen Ansichten und Meinungen Präzedenzfällen zu folgen habe, betonte er, dass ein guter Richter sich immer an das Gesetz halte, während ein schlechter sich an der Menge orientiere. Letzterer buhle um Wählerstimmen und sei dann empört, wenn gegen seine feigen Urteile bei höheren Gerichten Revision eingelegt werde.
»Nennen Sie mich, wie Sie wollen«, verkündete er der schweigenden Menge, »aber ein Feigling bin ich nicht.«
Ray hörte die Worte seines Vaters noch immer, sah ihn noch immer vor sich, ein Riese, der in der Ferne auf der Kanzel stand.
Nach einer Woche wurden die Protestierenden der Sache überdrüssig, und der Film lief planmäßig, bis er schließlich abgesetzt wurde. Die Kung-Fu-Filme kehrten zurück, und alle waren zufrieden. Zwei Jahre später, bei der nächsten Wahl, kam Richter Atlee in Ford County auf die üblichen achtzig Prozent.
Ray schnippte den Zigarrenstummel in einen Busch und ging zu seinem Zimmer. Die Nacht war kühl, und er öffnete das Fenster und lauschte den Autos, die die Stadt verließen und über die Hügel ent-schwanden.
5
Mit jeder Straße verband sich eine Geschichte, mit jedem Gebäude eine Erinnerung. Diejenigen, die mit einer wundervollen Kindheit gesegnet sind, können durch die Straßen ihrer Heimatstadt fahren und glückliche Jahre Revue passieren lassen, aber Ray hätte Clanton am liebsten schon nach einer Viertelstunde wieder den Rücken gekehrt.
Einerseits hatte sich die Stadt verändert, andererseits aber auch wieder nicht. An den Einfallstraßen drängten sich so eng wie möglich billige Blechhütten und Wohnanhänger, am liebsten dicht an der Straße, wohl damit sie besser zu sehen waren. In Ford County gab es keinerlei Bauvorschriften. Besaß man Land, konnte man ohne Genehmigung, Prüfung und einengende Vorschriften bauen, man musste nicht einmal die Nachbarn informieren. Lediglich wenn man eine Schweinefarm oder einen Nuklearreaktor
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