Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Richter

Der Richter

Titel: Der Richter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
Vom Netzwerk:
könnte die ganze Nacht dauern.«
    »Bring mich hier raus«, wisperte Ray.
    »Möchtest du auf die Toilette? «, fragte Harry Rex gerade so laut, dass die Umstehenden es verstehen konnten.
    »Ja«, antwortete Ray, der sich bereits auf den Weg gemacht hatte. Sie taten so, als würden sie sich leise über wichtige Angelegenheiten unterhalten, während sie auf den schmalen Korridor zugingen. Sekunden später standen sie hinter dem Gerichtsgebäude.
    Sie fuhren los, natürlich in Rays Wagen. Als sie den Platz umrundeten, ließen sie die Szenerie noch einmal auf sich wirken. Die Flagge vor dem Gerichtsgebäude hing auf halbmast, und noch immer wartete eine große Menschenmenge geduldig darauf, dem toten Richter die letzte Ehre erweisen zu dürfen.

10
    Nach vierundzwanzig Stunden in Clanton wünschte sich Ray nichts sehnlicher, als endlich abzureisen. Nach der Totenwache aß er mit Harry Rex bei Claude’s. In dem von Schwarzen geführten Restaurant auf der Südseite des Clanton Square gab es wie immer montags Grill-hähnchen mit gebackenen Bohnen. Das Ganze war so scharf gewürzt, dass man zwei Liter Eistee dazu serviert bekam. Harry Rex aalte sich in dem Erfolg, den er mit der großartig inszenierten Verabschiedung vom Richter erzielt hatte, und hatte es nach dem Essen eilig, ins Gerichtsgebäude zurückzukehren, um die Totenwache weiterhin zu beaufsichtigen.
    Forrest hatte die Stadt offenbar bereits verlassen. Ray hoffte, dass er in Memphis bei Ellie war und sich zusammenriss, aber im Grunde seines Herzens war ihm klar, dass das nicht der Fall war. Wie oft würde sein Bruder wohl noch rückfällig werden, bis ihn seine Sucht das Leben kostete? Harry Rex zufolge standen die Chancen fünfzig zu fünfzig, dass Forrest morgen zur Beerdigung kommen würde.
    Nachdem Harry Rex gegangen war, setzte sich Ray ans Steuer seines Wagens und fuhr los in Richtung Westen, ohne ein bestimmtes Ziel zu haben. Er wollte nur raus aus Clanton. Rund einhundert Kilometer entfernt hatten am Fluss kürzlich ein paar Kasinos eröffnet. Bei jedem Besuch in Mississippi kamen Ray neue Gerüchte über den jüngsten Industriezweig des Staates zu Ohren. Das Glücksspiel war in dem Staat mit dem geringsten Pro-Kopf-Einkommen der USA bis vor kurzem illegal gewesen, hatte sich inzwischen aber zu einem florierenden Gewerbe entwickelt.
    Eineinhalb Stunden von Clanton entfernt hielt er an einer Tankstelle an.
    Beim Einfüllen des Benzins entdeckte er auf der anderen Seite des Highways ein neues Motel. Wo sich noch vor kurzem weite Baumwollfelder erstreckt hatten, war jetzt alles übersät mit Straßen, Motels, Fastfood-Restaurants, Tankstellen und Werbetafeln, die im Dunstkreis der nahen Kasinos entstanden waren.
    Das Motel war zweistöckig, und alle Zimmer hatten direkten Zugang zum Parkplatz. Es schien nicht viel los zu sein. Ray zahlte 39,99 Dollar für ein Doppelzimmer im Erdgeschoss auf der Rückseite, wo keine Autos oder LKWs parkten. Dann stellte er den Audi so nah wie möglich vor seinem Zimmer ab. In Sekundenschnelle hatte er die drei Müllsäcke ins Innere verfrachtet.
    Das Geld bedeckte eines der beiden Betten vollständig. Er konnte nicht aufhören, es anzustaunen, weil er fest davon überzeugt war, dass es sich um schmutziges Geld handelte. Wahrscheinlich war es sogar irgendwie gekennzeichnet. Vielleicht war es auch Falschgeld. Woher auch immer es stammte, er konnte es nicht behalten.
    Es waren nur Hundert-Dollar-Scheine, manche davon druckfrisch und offenbar noch nie in Gebrauch gewesen. Andere sahen etwas mitgenommener aus, doch kein einziger war wirklich abgenutzt. Die ältesten stammten von 1986, die Jüngsten von 1994. Etwa die Hälfte war in Bündeln zu je zweitausend Dollar zusammengebunden. Diese zählte Ray zuerst. Einhunderttausend Dollar in Hundert-Dollar-Scheinen ergaben einen Stapel von rund fünfunddreißig Zentimetern Höhe. Er zählte das Geld auf dem einen Bett, dann reihte er die Stapel auf dem anderen sauber nebeneinander auf.
    Zeit spielte keine Rolle, und so ging er in aller Ruhe vor. Um zu prüfen, ob es sich wirklich um Falschgeld handelte, rieb er die Scheine zwischen den Fingern und roch sogar daran. Sie schienen echt zu sein.
    Am Ende kam er auf einunddreißig Stapel und ein paar überzählige Scheine - summa summarum 3.118.000 Dollar. Gehoben wie ein Schatz aus dem im Verfall begriffenen Haus eines Mannes, der in seinem ganzen Leben insgesamt weniger als halb so viel verdient hatte.
    Es war unmöglich, sich von dem

Weitere Kostenlose Bücher