Der Richter
Richter das Gehalt eines Chancellor bezogen, das aber in dieser Gegend im Vergleich zum Landesdurchschnitt zu den niedrigsten zählte. Als Ray damals an der Tulane-Universität einen Bericht über die Besoldung von Richtern las, musste er bekümmert feststellen, dass Richter in Mississippi zweiundfünfzigtausend Dollar pro Jahr verdienten, während ihre Kollegen überall sonst im Land durchschnittlich fünfundneunzigtausend einstrichen.
Der Richter lebte das einsame Leben eines Witwers, gab wenig für das Haus aus und hatte außer dem Pfeiferauchen keinerlei schlechte Angewohnheiten. Selbst hier bevorzugte er billigen Tabak. Er fuhr einen alten Lincoln, aß schlecht, aber reichlich, und trug die gleichen schwarzen Anzü-
ge, die man seit den Fünfzigerjahren an ihm kannte. Sein Laster war sein Wohltätigkeitsfimmel. Er sparte und spendete sein Geld dann für wohltäti-ge Zwecke.
Niemand wusste, wie viel Geld der Richter im Jahr weggab. Zehn Prozent gingen automatisch an die presbyterianische Kirche, zweitausend Dollar nach Sewanee, dieselbe Summe an den Verein Söhne der Konföderation. Diese drei Posten glichen ehernen Gesetzen, bei den anderen war das nicht so.
Der Richter gab praktisch jedem etwas, der ihn um eine Spende anging: einem behinderten Kind, das Krücken brauchte, einem All-Star-Team, das an einem Turnier mehrerer Bundesstaaten teilnehmen wollte, dem Rotary-Klub, der für die Impfung von Kleinkindern im Kongo sammelte, einem Tierheim, das sich um die herrenlosen Hunde und Katzen in Ford County kümmerte, dem einzigen Museum von Clanton, weil es ein neues Dach benötigte.
Die Liste war endlos. Um einen Scheck vom alten Atlee zu erhalten, musste man nur einen kurzen Brief schreiben und darin um eine Spende bitten. Das Geld kam prompt, und das war schon immer so gewesen, seit Ray und Forrest das Haus verlassen hatten.
Vor seinem geistigen Auge sah Ray seinen Vater förmlich vor sich, wie er an seinem unaufgeräumten, staubigen Schreibtisch mit dem Rollverschluss saß und auf der Underwood kurze Nachrichten tippte, die er dann in die Kuverts mit dem Aufdruck »Chancellor« steckte - zusammen mit den kaum entzifferbaren Schecks, die von der First National Bank of Clanton ausgegeben wurden. Fünfzig Dollar hier, hundert Dollar dort, für jeden etwas - bis das Geld restlos verbraucht war.
Mit dem Erbe würde es schon deshalb keine Probleme geben, weil es nur noch wenig zu verteilen gab. Die alten juristischen Fachbücher, das abge-nutzte Mobiliar, die mit schmerzhaften Erinnerungen verknüpften Famili-enfotos und Andenken, längst vergessene Akten und Papiere - all das war nur noch ein Haufen Ramsch, mit dem man höchstens ein beeindruckendes Freudenfeuer veranstalten konnte. Was immer das Haus noch bringen mochte, er und Forrest würden es verkaufen und schon zufrieden sein, wenn überhaupt etwas von dem »Familienvermögen« der Atlees übrig blieb.
Eigentlich hätte er jetzt Forrest anrufen sollen, aber es fiel ihm nie schwer, solche Telefonate zu verschieben. Sein Bruder Forrest - das war ein anderes Thema. Da gab es diverse Probleme, die weitaus komplizierter waren als die Schwierigkeiten mit einem todkranken, zurückgezogen lebenden Vater, der nichts anderes mehr im Sinn hatte, als sein Geld zu spen-den. Forrest war ein wandelndes Wrack, eine einzige Katastrophe, ein sechsunddreißigjähriges Kind, dessen Gehirn abgestumpft war durch jede legale und illegale Droge, die der amerikanischen Kultur bekannt war.
Was für eine Familie, murmelte Ray vor sich hin.
Er sagte die für elf Uhr angesetzte Lehrveranstaltung ab und fuhr los, um sich seine Form von »Therapie« zu gönnen.
2
Über dem Piedmont Plateau lag der Frühling. Der Himmel war ruhig und klar, und an den Ausläufern der Berge wurde die Natur mit jedem Tag grü-
ner. Im Shenandoah Valley pflügten die Farmer sorgfältig ihre Felder und überzogen sie mit kreuzförmigen Mustern, die das Gesicht des Tals veränderten. Für den nächsten Tag war Regen angekündigt, aber im zentralen Virginia konnte man der Wettervorhersage ohnehin nicht trauen.
Da Ray schon fast dreihundert Flugstunden absolviert hatte, galt sein erster Blick, wenn er sich morgens für den Acht-Kilometer-Lauf vorbereitete, dem Himmel. joggen konnte er bei jedem Wetter, fliegen nicht. Er hatte sich und seiner Versicherung gelobt, nicht nachts oder bei bewölktem Himmel zu fliegen. Fünfundneunzig Prozent aller Abstürze von Kleinflug-zeugen ereigneten sich entweder bei
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