Der Richter
ruinösen Zustandes hatte Forrest das Anwesen immer nur »Maple Rum« genannt. Die roten und gelben Ahornbäume, die einst die Straße gesäumt hatte, waren an irgendeiner unbekannten Krankheit zugrunde gegangen, die verrotteten Baumstümpfe nie entfernt worden.
Auf dem Rasen vor dem Haus spendeten vier riesige Eichen Schatten, die tonnenweise Laub abwarfen, das niemand zusammenharkte und wegschaff-te. Mindestens zweimal pro Jahr brach ein Ast ab, der irgendwo auf das Haus krachte und vielleicht entfernt wurde, vielleicht aber auch nicht. Jahr um Jahr und Jahrzehnt um Jahrzehnt musste das Haus Schläge einstecken, doch es brach nie zusammen.
Trotz allem war das georgianische Gebäude immer noch stattlich, obwohl die Säulen, einst zum Andenken des Bauherrn errichtet, nur noch eine traurige Erinnerung an den Niedergang der Familie waren. Ray wollte nichts mehr mit dem Haus zu tun haben. Für ihn waren damit nur unangenehme Gefühle verbunden; jede Rückkehr in seine Heimat deprimierte ihn. Er wollte nie wieder in Clanton leben. Außerdem hätte er es sich auch nicht leisten können, ein Haus zu unterhalten, das in finanzieller Hinsicht ein Fass ohne Boden war und eigentlich abgerissen und dem Erdboden gleich gemacht werden sollte. Forrest würde es eher anzünden als wieder einzuziehen.
Der Richter legte großen Wert darauf, dass Ray das Haus übernahm und es im Besitz der Familie hielt. Während der letzten paar Jahre war mehr-fach vage darüber gesprochen worden, doch eine Frage hatte Ray nie zu stellen gewagt: »Was denn für eine Familie?« Kinder hatte er nicht. Er hatte eine Exfrau, aber eine neue Partnerin war nicht in Sicht. Dasselbe galt für Forrest, wenn man einmal davon absah, dass er sogar zwei Exfrauen aufweisen konnte, außerdem eine Schwindel erregende Kollektion von Exfreundinnen. Gegenwärtig lebte er mit Ellie zusammen, die zwölf Jahre älter war, hundertvierzig Kilogramm wog und sich dem Malen und Töpfern verschrieben hatte.
Dass Forrest bis jetzt noch keinen Nachwuchs produziert hatte, glich einem biologischen Wunder, aber bisher waren keine Kinder aktenkundig geworden.
Folglich schien es unausweichlich, dass die Familie Atlee ausstarb, aber Ray beunruhigte das überhaupt nicht. Er lebte sein eigenes Leben und wür-de sich weder den Wünschen seines Vaters noch der glorreichen Vergangenheit der Familie unterwerfen. Nach Clanton kehrte er nur anlässlich von Beerdigungen zurück.
Nie war darüber gesprochen worden, was der Richter sonst noch zu vererben hatte. Einst war die Familie Atlee sehr wohlhabend gewesen, allerdings lange vor Rays Zeit. Land, Baumwolle, Sklaven, Eisenbahnen, Banken, Politik - das typische Portfolio eines Konföderierten, dessen Geldwert allerdings im späten zo. Jahrhundert gen null tendierte. Freilich hatte dies den Atlees den Ruf eingebracht, dass »Geld in der Familie« war.
Mit zehn Jahren hatte Ray erfahren, dass seine Familie reich war. Sein Vater war Richter, ihr Anwesen hatte einen Namen, und im ländlichen Mississippi bedeutete dies, dass er ein Kind aus reichem Hause war. Vor ihrem Tod hatte sich ihre Mutter alle Mühe gegeben, Ray und Forrest davon zu überzeugen, dass sie etwas Besseres als die meisten anderen waren. Sie lebten in einem eigenen Haus, waren Presbyterianer, machten alle drei Jahre Urlaub in Florida, trugen die bessere Kleidung. Gelegentlich aßen sie im Restaurant des Peabody-Hotels in Memphis zu Abend.
Schließlich wurde Ray in Stanford angenommen. Doch angesichts des unverblümten Kommentars des Richters platzten seine Träume wie Luft-ballons: »Das kann ich mir nicht leisten.«
»Was willst du damit sagen?«, fragte Ray.
»Exakt das, was ich gesagt habe. Stanford kann ich mir nicht leisten.«
»Aber das verstehe ich nicht.«
»Dann muss ich mich wohl deutlicher ausdrücken. Es steht dir völlig frei, für welches College du dich entscheidest. Sollte deine Wahl auf Sewanee fallen, werde ich dafür aufkommen.«
Also ging Ray nach Sewanee, allerdings ohne den angeblichen Reichtum seiner Familie im Reisegepäck. Zwar unterstützte ihn sein Vater finanziell, doch der kärgliche Wechsel reichte kaum für Studiengebühren, Bücher, Unterbringung, Verpflegung und die Beiträge für die Studentenverbindung.
Später besuchte er die juristische Fakultät der Tulane-Universität in New Orleans, wo er sich dadurch über Wasser hielt, dass er in einer Austernbar im Französischen Viertel kellnerte.
Zweiunddreißig Jahre lang hatte der
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