Der Richter
Arbeitszimmer. In bar. Es muss einen Grund dafür geben, dass er es dort aufbewahrt hat.«
»Wie viel?«, fragte sie nach kurzem Zögern.
»Einhunderttausend.« Ray beobachtete ihr Gesicht und ihre Augen. Ü-
berraschung, aber kein Schock. Er hatte sich einen Plan zurechtgelegt, daher sprach er schnell weiter. »Seine Unterlagen sind lückenlos. Es gibt für alles Belege - ausgestellte Schecks, Einzahlungen, Ausgaben. Nur für dieses Geld scheint es keine Quelle zu geben.«
»Er hatte nie viel Bargeld im Haus«, sagte sie langsam.
»Daran kann ich mich auch erinnern. Ich habe keine Ahnung, wo das Geld herkommt. Du vielleicht?«
»Nein«, antwortete sie ohne Zögern. »Der Richter wollte nie etwas mit Bargeld zu tun haben. Es lief alles über die First National Bank. Er hat lange Jahre im Aufsichtsrat der Bank gesessen, weißt du noch?«
»Ja, natürlich. Hatte er sonst noch Einnahmen?«
»Was für Einnahmen sollten das gewesen sein?«
»Das frage ich dich, Claudia. Du hast ihn besser gekannt als jeder andere. Und du hast seine Arbeit gekannt.«
»Er ist völlig in seinem Beruf aufgegangen. Für ihn war es eine große Ehre, Chancellor zu sein, und er hat immer sehr hart gearbeitet. Er hatte gar keine Zeit für etwas anderes.«
»Einschließlich seiner Familie«, sagte Ray. Er hätte es am liebsten gleich wieder zurückgenommen.
»Ray, er hat seine Söhne geliebt, aber er war aus einer anderen Generation.«
»Lassen wir das Thema.«
»Ja, lassen wir es.«
Ihr Gespräch geriet ins Stocken. Keiner von beiden wollte über die Familie sprechen. jetzt ging es um das Geld. Ein Auto fuhr langsam die Stra-
ße entlang und schien gerade lange genug anzuhalten, damit die Insassen sich das Verkaufsschild ansehen und einen Blick auf das Haus werfen konnten. Ein Blick genügte offenbar, denn gleich darauf trat der Fahrer aufs Gas, und das Auto fuhr davon.
»Hast du gewusst, dass er gespielt hat?«, fragte Ray.
»Der Richter? Nein.«
»Schwer zu glauben, nicht wahr? Harry Rex hat ihn eine Zeit lang einmal in der Woche in die Kasinos mitgenommen. Sieht so aus, als hätte der Richter Glück im Spiel gehabt, Harry Rex dagegen nicht.«
»Man hört immer wieder Gerüchte, vor allem über die Anwälte. Einige von ihnen sind dadurch ganz schön in Schwierigkeiten geraten.«
»Aber du hast nichts über den Richter gehört?«
»Nein. Ich glaube es auch nicht.«
»Claudia, das Geld muss schließlich irgendwo herkommen. Außerdem muss es schmutziges Geld sein, denn sonst gäbe es doch Belege dafür.«
»Wenn er beim Spielen gewonnen hätte, hätte er das Geld als schmutzig angesehen - meinst du das?« Sie hatte den Richter wirklich besser gekannt als jeder andere.
»Ja. Und du?«
»Es hätte zu Reuben Atlee gepasst.«
Sie beendeten das Thema und schwiegen, während sie im kühlen Schatten der Veranda hin und her schaukelten, als wäre die Zeit stehen geblieben. Keinem von beiden war die Stille unangenehm. Auf einer Veranda zu sitzen erlaubte einem, ein Gespräch für längere Zeit zu unterbrechen, um seine Gedanken zu sammeln oder an gar nichts zu denken.
Schließlich hatte Ray, der immer noch nach einem ungeschriebenen Drehbuch vorging, genügend Mut gefasst, um die schwierigste Frage von allen zu stellen. »Claudia, ich muss etwas wissen, und bitte sei ehrlich.«
»Ich bin immer ehrlich. Das ist eine meiner Schwächen.«
»Ich habe die Integrität meines Vaters nie in Zweifel gezogen.«
»Das solltest du auch jetzt nicht tun.«
»Ich muss es wissen, Claudia.«
»Sprich weiter.«
»Hat er nebenbei noch etwas verdient - eine kleine Zulage von einem Anwalt, ein Stück vom großen Kuchen einer Prozesspartei? Hat er Bestechungsgelder genommen?«
»Definitiv nicht.«
»Claudia, ich stochere im Dunkeln und hoffe, dass da etwas ist. Man findet nicht einfach so einhunderttausend Dollar in ungebrauchten, neuen Scheinen in einem Regal. Als er starb, hatte er sechstausend Dollar auf dem Konto. Warum hat er einhunderttausend versteckt?«
»Er war der ehrlichste Mann der Welt.«
»Das glaube ich dir.«
»Dann hör auf, von Bestechung zu reden.«
»Nichts lieber als das.«
Sie zündete sich noch eine Zigarette an, und Ray ging in die Küche, um die Teegläser aufzufüllen. Als er auf die Veranda zurückkam, war Claudia tief in Gedanken versunken und starrte über die Straße hinweg ins Leere.
Sie schaukelten eine Welle hin und her.
»Ich glaube, der Richter hätte gewollt, dass du etwas von dem Geld bekommst«,
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