Der Richter
Ich bin fett geworden, und jetzt ist mir meine Arbeit wichtiger. «
Ray sah sich im Zimmer um.
»Und Sex bekomme ich auch woanders«, sagte sie mit einem Blick auf die Tür, durch die Trudy verschwunden war.
»Für mich ist Forrest ein Freund. Ich glaube, ich liebe ihn, auf meine Art. Aber er ist auch ein Süchtiger, der fest entschlossen scheint, für den Rest seines Lebens süchtig zu bleiben. Nach einer Welle ist das ziemlich frustrierend.«
»Das Gefühl kenne ich. Ich kann Sie gut verstehen.«
»Ich glaube, er gehört zu den wenigen Menschen, die stark genug sind, um sich im letzten Moment zusammenzureißen.«
»Aber nicht stark genug, um ganz von ihrer Sucht loszukommen.«
»Genau. Ich habe vor fünfzehn Jahren aufgehört. Süchtige haben kein Mitleid mit anderen Süchtigen. Deshalb wohnt er jetzt im Keller.«
Vermutlich ist er dort auch glücklicher, dachte Ray. Er bedankte sich bei Ellie für den Tee und das Gespräch. Sie begleitete ihn zur Tür. Als er weg-fuhr, stand sie immer noch hinter dem Fliegengitter.
22
Der Nachlass von Reuben Vincent Atlee wurde in dem Gerichtssaal eröffnet, in dem er zweiunddreißig Jahre lang gearbeitet hatte. Von der Eichen getäfelten Wand hinter dem Richtertisch blickte ein grimmig aussehender Richter Atlee zwischen den Flaggen der USA und des Bundesstaates Mississippi auf die Testamentsbeglaubigung herab. Es war dasselbe Porträt, das vor drei Wochen neben dem im Gerichtsgebäude aufgebahrten Sarg aufgestellt worden war. Jetzt war es wieder da, wo es hingehörte, an dem Platz, an dem es ohne jeden Zweifel bis in alle Ewigkeithängen würde.
Der Mann, der die Karriere des Richters beendet und ihn ins Exil nach Maple Run geschickt hatte, war Mike Farr aus Holly Springs. Er war inzwischen wieder gewählt worden und machte seine Arbeit Harry Rex zufolge recht gut. Chancellor Farr überprüfte den Antrag auf Ernennung zum Nachlassverwalter und las das aus einer Seite bestehende Testament durch, das dem Antrag beigefügt war.
Im Gerichtssaal wimmelte es nur so von Anwälten und Angestellten, die Anträge einreichten und sich mit ihren Mandanten unterhielten. An diesem Tag wurden nur unproblematische Fälle, bei denen die Rechtslage klar war, und einfache Anträge bearbeitet. Ray saß in der ersten Reihe des Zuschau-erraums, während Harry Rex vor dem Richtertisch stand und sich leise mit Chancellor Farr unterhielt. Neben Ray saß Forrest, der bis auf die langsam verblassenden Blutergüsse unter den Augen so normal aussah, wie das bei ihm möglich war. Er hatte sich zuerst geweigert, an der gerichtlichen Testamentseröffnung teilzunehmen, nach einer Standpauke von Harry Rex jedoch nachgegeben.
Er wohnte wieder bei Ellie, nachdem er wie üblich zurückgekehrt war, ohne ein Wort darüber zu verlieren, wo er gewesen war oder was er getan hatte. Es wollte sowieso niemand wissen. Sein Job wurde nicht mehr er-wähnt, deshalb ging Ray davon aus, dass Forrests kurze Karriere als medizinischer Berater für die Anwälte der Skinny-Ben-Opfer zu Ende war.
Alle fünf Minuten beugte sich ein Anwalt vom Mittelgang aus zu Ray, streckte ihm die Hand hin und erzählte ihm, was für ein feiner Mensch sein Vater gewesen sei. Man erwartete natürlich von ihm, dass er alle Anwälte kannte, weil sie ihn ja auch kannten. Mit Forrest sprach keiner.
Harry Rex bedeutete Ray, zu ihm an den Richtertisch zu treten. Chancellor Farr begrüßte ihn herzlich. »Ihr Vater war ein feiner Mann und ein großartiger Richter«, sagte er, während er sich zu Ray hinunterbeugte.
»Danke«, antwortete Ray. Und warum hast du bei deinem Wahlkampf dann gesagt, dass er zu alt und nicht mehr auf dem Laufenden sei?, hätte Ray am liebsten gefragt. Das war vor neun Jahren gewesen, doch sie kamen ihm wie fünfzig vor. Nach dem Tod seines Vaters war alles in Ford County um Jahrzehnte gealtert.
»Sie sind Dozent für Jura?«, erkundigte sich Chancellor Farr.
»Ja, an der Universität von Virginia.«
Der Richter nickte anerkennend. »Sind alle Erben anwesend?«, fragte er dann.
»Ja, Sir«, erwiderte Ray. »Das sind mein Bruder Forrest und ich.«
»Und Sie haben beide dieses aus einer Seite bestehende Dokument gelesen, das allem Anschein nach der letzte Wille von Reuben Atlee ist?«
»Ja, Sir.«
»Hat jemand Einspruch gegen die Testamentseröffnung erhoben?«
»Nein, Sir.«
»Gut. Gemäß den Bestimmungen dieses Testaments ernenne ich Sie hiermit zum Nachlassverwalter Ihres verstorbenen Vaters. Die
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