Der Richter
fünfzehn Jahren aufgegeben. In der ersten Zeit ihrer Beziehung hatte er in Ellies Schlafzimmer gewohnt. jetzt hauste er im Keller. In dem Gebäude lebten noch einige andere Mieter, alle angeblich mittellose Künstler, die ein Dach über dem Kopf brauchten.
Ray parkte am Bordstein auf der Straße. Die Büsche mussten dringend geschnitten werden, und das Dach sah schon ziemlich alt aus, aber ansonsten war das Haus recht gut in Schuss. Forrest strich es jedes Jahr im Oktober, immer in einer gewagten Farbkombination, über die er sich ein Jahr lang mit Ellie stritt. Zurzeit war es blassblau mit roten und orangefarbenen Verzierungen. Forrest hatte Ray erzählt, dass er es einmal sogar petrolgrün gestrichen hatte.
An der Tür begrüßte ihn eine junge Frau mit schneeweißer Haut und schwarzem Haar mit einem unfreundlichen »Ja?«
Ray sah sie durch die mit Fliegengitter bespannte Tür an. Das Haus hinter ihr war dunkel und unheimlich, genau wie beim letzten Mal. »Ist Forrest da? Oder Ellie?«, fragte er so unfreundlich wie möglich.
»Sie hat zu tun. Wer sind Sie?«
»Ray Atlee. Ich bin der Bruder von Forrest.«
»Von wem?«
»Von Forrest. Er wohnt im Keller.«
Ah, dieser Forrest. Sie verschwand, und gleich darauf hörte Ray Stimmen aus dem rückwärtigen Teil des Hauses.
Ellie trug ein weißes Bettlaken mit Schlitzen für Kopf und Arme, auf dem Spritzer und Flecken von Ton und Wasser zu sehen waren. Sie trocknete sich die Hände an einem schmutzigen Geschirrtuch ab und sah verärgert aus, weil man sie bei der Arbeit unterbrochen hatte. »Tag, Ray«, sagte sie wie zu einem alten Freund und öffnete die Tür.
»Hallo, Ellie.« Er folgte ihr durch den Flur ins Wohnzimmer.
»Trudy, bringst du uns bitte Tee?«, rief Ellie. Wo auch immer Trudy steckte, sie gab keine Antwort. An den Wänden des Zimmers standen die verrücktesten Töpfe und Vasen, die Ray je gesehen hatte. Forrest hatte ihm einmal erzählt, Ellie arbeite jeden Tag zehn Stunden und bringe es nicht fertig, auch nur ein Stück wegzugeben.
»Mein Beileid wegen Ihres Vaters«, sagte sie. Sie setzten sich einander gegenüber, zwischen sich einen schiefen Glastisch, der auf drei phallisch anmutenden Zylindern in unterschiedlichen Blautönen ruhte. Ray achtete darauf, ihn nicht zu berühren.
»Danke«, erwiderte er steif. Kein Anruf, keine Karte, kein Brief, keine Blumen, kein Wort des Mitgefühls, erst jetzt, bei dieser zufälligen Begeg-nung. Im Hintergrund hörte er leise Opernmusik.
»Sie wollen zu Forrest?«, sagte sie.
»Ja.«
»Ich habe ihn in letzter Zeit nicht gesehen. Er wohnt im Keller und kommt und geht wie ein alter Kater. Heute Morgen habe ich eines der Mädchen nach unten geschickt, damit sie einen Blick in sein Zimmer wirft
- sie glaubt, dass er etwa seit einer Woche weg ist. Das Bett ist seit fünf Jahren nicht mehr gemacht worden.«
»Das ist mehr, als ich wissen wollte.«
»Angerufen hat er auch nicht.«
Trudy kam mit einem Teeservice herein, das ebenfalls eine von Ellies grauenhaften Schöpfungen war. Die Tassen waren nicht zusammen passende kleine Töpfe mit großen Henkeln. »Milch und Zucker?«, fragte sie.
»Nur Zucker. «
Trudy reichte ihm seine Tasse, die er mit beiden Händen ergriff. Wenn er sie fallen ließe, dachte er, würde sie ihm den Fuß zerschmettern.
»Wie geht es ihm?«, fragte Ray, nachdem Trudy gegangen war.
»Er ist betrunken, er ist nüchtern, er ist eben Forrest.«
»Was ist mit Drogen?«
»Fragen Sie nicht. Es ist besser, wenn Sie’s nicht wissen.«
»Sie haben Recht.« Ray versuchte, an seinem Tee zu nippen. Er bestand aus einer pfirsichfarbenen Flüssigkeit, und ein Tropfen genügte vollkommen. »Haben Sie gewusst, dass er vor ein paar Tagen in eine Schlägerei verwickelt war? Ich glaube, er hat sich die Nase gebrochen.«
»Wäre nicht das erste Mal. Warum betrinken sich Männer und gehen dann aufeinander los?« Das war eine ausgezeichnete Frage, auf die Ray keine Antwort wusste. Ellie trank in hastigen Schlucken ihren Tee und schloss dabei die Augen. Vor vielen Jahren war sie eine schöne Frau gewesen. Aber jetzt, mit Ende vierzig, hatte sie aufgehört, sich um ihr Äußeres zu kümmern.
»Ihnen liegt nichts an ihm, stimmt’s?«, wollte Ray wissen.
»Doch, natürlich.«
»Seien Sie ehrlich.«
»Ist das so wichtig für Sie?«
»Er ist mein Bruder. Sonst kümmert sich niemand um ihn.«
»Am Anfang hatten wir großartigen Sex, aber dann haben wir einfach das Interesse aneinander verloren.
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