Der Richter
Court. An einem Chancery Court wurden Geschworenenprozesse von Gesetz wegen nur bei Testamentsanfechtungen durchgeführt. Ray hatte während seiner Referendarzeit beim Richter bei mehreren dieser aufwändigen Verfahren mitgearbeitet.
Der Chancery Court war aus zwei Gründen für den Fall zuständig. Erstens: Gibson war tot, und sein Nachlass fiel in den Zuständigkeitsbereich des Chancery Court. Zweitens: Gibson hatte ein Kind unter achtzehn Jahren.
Rechtsangelegenheiten Minderjähriger waren grundsätzlich an einem Chancery Court zu verhandeln.
Gibson hatte drei weitere Kinder, die aber alle schon erwachsen waren.
Die Klage hätte daher sowohl bei einem Bundesgericht als auch bei einem Chancery Court eingereicht werden können, was auf eines von zahllosen Schlupflöchern in den Gesetzen des Bundesstaates Mississippi zurückzuführen war. Ray hatte den Richter einmal gebeten, ihm dieses Rätsel zu erklären, aber wie üblich hatte er als Antwort nur ein »Wir haben das beste Gerichtssystem der Welt« zu hören bekommen. Das glaubte jeder alt ge-diente Chancellor.
Dass man seinen Anwalt entscheiden ließ, vor welchem Gericht geklagt wurde, kam nicht nur in Mississippi vor. »Forum Shopping« - also der Versuch, einen Fall vor einem aus welchen Gründen auch immer wohl geson-nen Gericht verhandeln zu lassen - war in allen amerikanischen Bundesstaaten üblich. Aber wenn eine Witwe aus einem ländlichen Gebiet von Mississippi eine Klage gegen ein Schweizer Mammutunternehmen, das ein in Uruguay hergestelltes Medikament in den Vereinigten Staat vertrieb, am Chancery Court von Hancock County einreichte, mussten sämtliche A-larmglocken schrillen. Mit solch komplexen Fällen wandte man sich in der Regel an ein Bundesgericht, und Miyer-Brack und seine Phalanx von An-wälten hatten auch hartnäckig versucht, den Fall an ein anderes Gericht verweisen zu lassen. Doch Richter Atlee hatte sich geweigert, und der Bun-desrichter ebenfalls. Unter den Beklagten befanden sich Ortsansässige, so dass die Verweisung an ein Bundesgericht abgelehnt werden konnte.
Reuben Atlee führte den Vorsitz, und im Verlauf der Verhandlung verlor er immer öfter die Geduld mit den Anwälten der Beklagten. Über einige Entscheidungen seines Vaters musste Ray schmunzeln. Sie waren kurz und bündig, ausgesprochen sachlich und so geartet, dass sie die Horden von Anwälten, die um die Beklagten herumschwirrten, in helle Aufregung ver-setzten. Moderne Maßnahmen für eine zügige Prozessführung waren in Richter Atlees Gerichtssaal noch nie notwendig gewesen.
Bei der Verhandlung stellte sich heraus, dass Ryax ein fehlerhaftes Produkt war. Patton French fand zwei Gutachter, die kein gutes Haar an dem Medikament ließen. Die Gegengutachter von Miyer-Brack waren lediglich Sprachrohr des Pharmaunternehmens. Ryax senkte den Cholesterinspiegel ganz erheblich. Es war im Eiltempo durch sämtliche Zulassungsverfahren gebracht und dann auf den Markt geworfen worden, wo es sich von Anfang an außergewöhnlich gut verkauft hatte. Inzwischen waren Zehntausende von Nieren zerstört, und Mr. Patton French machte Miyer-Brack dafür verantwortlich.
Der Prozess dauerte acht Tage. Trotz der Einwände der Verteidiger begann die Verhandlung jeden Morgen um Punkt 8.15 Uhr. Sie endete häufig erst um zwanzig Uhr, was zu weiteren Einwänden führte, die von Richter Atlee jedoch allesamt ignoriert wurden. Ray hatte das unzählige Male mit-erlebt. Der Richter glaubte an harte Arbeit, und da er bei diesem Fall keine Rücksicht auf Geschworene nehmen musste, war er durch nichts zu erweichen.
Das Urteil wurde zwei Tage nach der letzten Zeugenaussage gesprochen, ein Beweis für Richter Atlees ungewöhnlich schnelle Arbeitsweise. Er war offenbar in Bay St. Louis geblieben und hatte dem Gerichtsstenotypisten seine vierseitige Entscheidung diktiert. Auch das war für Ray keine Überraschung. Der Richter hasste Verzögerungen bei der Urteilsfällung.
Außerdem hatte er seine Notizen, auf die er sich beziehen konnte. Nach acht Tagen ununterbrochener Zeugenaussagen musste der Richter dreißig Notizblöcke beschrieben haben. Sein Urteil war so detailliert, dass sogar die Gutachter beeindruckt waren.
Der Familie von Clete Gibson wurde ein Schadenersatz für den entstan-denen Verlust in Höhe von 1,1 Millionen Dollar zugesprochen, einem Wirtschaftswissenschaftler zufolge der Wert seines Lebens. Und um Miyer-Brack dafür zu bestrafen, dass das Unternehmen ein derart fehlerhaftes
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