Der Ring der Kraft - Covenant 06
rannen Tränen aus den Augen. Sie konnten nicht wissen, was sich zugetragen hatte, es nicht erfahren, ehe sie einen Weg aus den Schrathöhlen gefunden hatten und das befreite Land betraten. Aber Linden brachte es nicht über sich, das Paar in solchem Kummer zurückzulassen. Zuviel hatten die zwei ihr gegeben. Mit ihrem letzten Rest von Kraft griff sie nach den beiden und segnete ihren Geist mit einer sachten Berührung, einer Siegesbotschaft. Das war das einzige Geschenk, das sie noch machen konnte.
Aber auch das war genug. Voller Staunen fuhr die Erste zusammen; unerwartete Freude besänftigte ihre Gesichtszüge. Und Pechnase warf den Kopf in den Nacken, krähte wie ein Hahn in lieblicher Morgendämmerung. »Linden Avery! War's nicht stets mein Wort, daß du wohl auserwählt bist?«
Der unablässige Wind der Welten durchwehte Linden. In wenigen Augenblicken mußte sie für immer von den Riesen scheiden. Aber sie hielt an ihrem Anblick fest, solange es ging. Irgendwie schaffte sie es, noch lange genug präsent zu bleiben, um zu sehen, wie die Erste den Stab des Gesetzes aufhob. Den Ring hatte Linden nach wie vor in der Faust; der Stab hingegen mußte vorhin aus ihrer Hand neben die Erhöhung des Felsbodens gefallen sein. Die Erste nahm ihn, als sei er eine Verheißung. »Dieser Stab darf nicht in üble Hände fallen«, sagte sie leise. Ihre Stimme klang so fest wie Granit; sie überforderte beinahe Lindens Gehör. »Ich werde ihn im Namen der Zukunft behüten, die Erdfreund und Auserwählte mit ihrem Leben für uns erworben haben. Sollten Sunder und Hollian noch leben, werden sie seiner bedürfen.«
Pechnase lachte, lärmte, küßte sie. Dann beugte er sich über den Felsboden, hob Covenant auf seine Arme. Sein Rücken war stark und gerade. Gemeinsam verließen er und die Erste das Kiril Threndor. Die Erste schritt aus wie eine Schwertkämpferin, bereit für die Welt. Aber Pechnase hüpfte und sprang an ihrer Seite, als tanze er dahin.
Da ließ Linden los. Der Donnerberg türmte sich über ihr empor, unwägbar wie die Abstände zwischen den Sternen; er war schwerer als Trauer, größer als Verlust. Nichts konnte jemals heilen, was er erduldet hatte. Linden war nur eine Sterbliche; doch der Gram des Donnerbergs würde ohne Unterlaß oder Milderung andauern, untröstlich für alle Zeit.
Der Wind erfaßte Linden, und sie fühlte, wie sie verschwand. Hinaus in die Dunkelheit.
EPILOG
RÜCKKEHR
21
»LEBEWOHL ZU SAGEN«
Aber sobald der Wind sie vollends gepackt hatte, spürte sie seine Kraft nicht mehr. Er zerrte sie aus dem Land, als wäre sie nur Nebel; und wie Nebel war sie schmerzunempfindlich. Sie war zerschlagen und abgekämpft bis zur Benommenheit. Wenn die Betäubung vergangen war, würde ihr Schmerz seine Stimme wiederfinden und aufschreien. Doch auch diese Aussicht hatte nicht länger die Macht, sie zu schrecken. Schmerz war die Kehrseite der Liebe; und die bereute sie nicht.
Gegenwärtig jedoch herrschte Ruhe in ihrem Gemüt, und der Wind trug sie behutsam durch die grenzenlose Dunkelheit. Ihr besonderes Wahrnehmungsvermögen war bereits dahin, für sie verloren wie das Land; sie verfügte über keine Möglichkeit zum Ermessen der einsamen Weite, die sie überquerte. Aber der Ring – Covenants Ring, ihr Ring – lag nach wie vor in ihrer Hand, und ihn festzuhalten spendete ihr Trost.
Und während sie durch die Mitternacht zwischen den Welten trieb, erinnerte sie sich an Gesang, Bruchstücke eines Liedes, das Pechnase einmal gesungen hatte. Für einige Zeit entsann sie sich nur an Teile. Aber die Sehnsüchtigkeit ihrer Erinnerung fand die Worte wieder zusammen.
Mein Herz hat Stuben, die seufzen von Staub
Und Asche in den Herden.
Gesäubert wolln sie sein, verweht soll alles
Von des Tages Atem werden.
Doch mag ich mich nicht dranbegeben,
So lieb ist selbst der Staub mir,
Denn Staub und Asche wissen noch,
Meine Liebe, sie war hier.
Ich weiß nicht, wie Lebewohl zu sagen,
Dieweil Lebewohl ist jenes Wort,
Das mir allein zu sagen bleibt,
Gehör noch finden wird hinfort.
Ich kann das eine Wort nicht sprechen
Und nimmermehr meine Liebe hassen.
Wie soll ich's tragen, daß die Stuben
Sind nun so verlassen?
Ich sitz' im Staub und hoffe,
Daß Staub mich decken werde.
Wiewohl sie erkaltet, stocher' ich
In der Asche meiner Herde.
Um meine Einsamkeit fortzuschließen,
Ich die Tür nicht zutun mag,
Solange Staub und Asche
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