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Der Ring

Der Ring

Titel: Der Ring Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Melko
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beim Schlafen. Manche sogar, wenn sie mit anderen schliefen, das war dann der Gipfel des Exhibitionismus. Natürlich musste man sich ab und zu ausklinken, jeder brauchte mal eine Pause. Aber sobald man draußen war, fühlte man sich wie ein halber Mensch.
    So war das damals.
    Wenn wir im Mesh vereint waren, erkannten wir es – den Endzweck, die große Vision. Die seelische Vereinigung aller Menschen dieses Planeten strebte unermüdlich und rastlos auf ein einziges Ziel hin: den Exodus.
    Jedenfalls denke ich, dass das unser Ziel war. Ich kann mich nicht besonders gut erinnern. Aber jetzt sind sie alle weg, oder? Nur ich bin geblieben. Offensichtlich haben sie es geschafft.
    Und ich war nicht dabei, als es passierte.
    Henry mache ich keinen Vorwurf. An seiner Stelle hätte ich auch nicht anders reagiert, wenn mein bester Freund meine Frau gebumst hätte.
    Bei Gillian ist das was anderes.
    Gillian und ich, wir waren Seelenverwandte. Aber als ich sechsundzwanzig Jahre später aus der Tiefkühlung kam, war auch sie verschwunden. Wie alle anderen.
    Man sollte meinen, Institutionen wie die Ehe wären in der Community überflüssig geworden. Man sollte meinen, die logische Konsequenz aus dem Gruppenhirn wäre der Gruppensex gewesen. Eigentlich merkwürdig, welche Traditionen dann doch fortgeführt wurden, fernab vom Kollektiv.
    Tja, Henry musste also mit einer anderen Forschungsgruppe für eine Woche zum Wedge 214, und als er weg war, gingen Gillian und ich gewissermaßen eine Zweiercommunity ein. Ich kannte sie schon fast so lange wie Henry, wir waren alle mit der ersten Einwanderungswelle auf den Ring gekommen, und befreundet waren wir sogar schon länger, seit unserer Studentenzeit in Ann Arbor. Henry und ich hingen schon eine Weile miteinander herum, als wir Gillian und ihre Freundin Robin in der Cafeteria kennenlernten. Weil er auf große Mädchen stand, schnappte er sich Gillian. Meine Affäre mit Robin dauerte bis zum Zähneputzen am nächsten Morgen, während Gillian und Henry heirateten.
    Sie war eine schöne Frau. Dieselbe Haarfarbe wie du, kastanienbraun, und eine tolle Figur. Und sie konnte Witze erzählen. Außerdem konnte sie … Nein, das lassen wir lieber mal.
    Ja, ja, schon klar. Der Trauzeuge bumst die Braut. Die alte Geschichte, ein einziges Trauerspiel. Das heißt, ihr habt vielleicht gar keine Ahnung, wovon ich rede, ihr seid ja ein Schwarm. Aber ein Trauerspiel ist es trotzdem, das könnt ihr mir glauben.
    Ich bin mir sicher, dass Henry ziemlich bald Bescheid wusste. Vor der Community konnte man nichts verbergen. Aber er ließ sich Zeit. Er plante in aller Ruhe. Und als er dann zuschlug – zack! –, war es aus mit mir.
    Wir arbeiteten gerade an neuen Schnittstellen für den Occipitallappen; wir wollten die visuelle Repräsentation der Community verbessern, eine tolle Sache. Henry war für die Testläufe zuständig. Er nickte unseren Kram ab, und ich stellte mich als Versuchskaninchen zur Verfügung.
    Schon komisch. Ich weiß noch, wie ich mich freiwillig gemeldet habe, aber ich weiß nicht mehr, wie Henry mich dazu gebracht hat. Er muss mich ziemlich lange bearbeitet haben, da bin ich mir sicher.
    Tja, wie sich herausstellte, waren die Upgrades inkompatibel mit meinem Interface. Als ich die neue Hardware einbaute, brannten die Nervenbahnen meiner Großhirnrinde durch, das Interface wurde schockgefrostet. Folglich war ich nur noch ein leeres Gehäuse.
    Sie versetzten meinen Körper in den Scheintod, während das Hirn rekonstruiert wurde. Für die Community war nichts unmöglich, aber manches dauerte eben eine Weile. Zum Beispiel die Rekonstruktion eines Gehirns. Sechs Monate später war der Exodus über die Bühne gegangen, doch die Elektronik des Rings arbeitete weiter an meinen grauen Zellen. Drei Jahrzehnte lang, denn ohne menschliche Führung war sie deutlich langsamer. Vor drei Monaten war es dann so weit – ich wurde wiederbelebt, der einzige Mensch, der zurückgeblieben war.
    In meinen Träumen gehöre ich manchmal noch dazu. In meinen Träumen ist die Community manchmal noch da, zum Greifen nahe. Zuerst waren das die reinsten Alpträume, aber mittlerweile hab ich mich dran gewöhnt. Die Quantencomputer existieren noch, ihre ungenutzten Hüllen stehen dort oben und warten. Vielleicht träumen auch sie von der Community.
    Diesmal wird es einfacher sein, deutlich einfacher. Die Technik ist viel weiter fortgeschritten als damals. Der Zweite Exodus wird kommen, schon in ein paar Monaten. Alles,

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